Exkurs: Der oder das Gummi? Tja: Im Deutschen gibt es, kein Ausländer würde es je von uns erwarten, eine ganze Reihe von Substantiven ohne amtlich definiertes Geschlecht. Dazu gehört auch Gummi und die diversen Produkte aus elastischem Kautschuk-
oder Latex-Material, ob Radier-, Kau-Gummi, Verhüterlis und vieles mehr. Beim Grundstoff
überwiegt in der Praxis die sächliche Wortform, also „das Gummi“, bei
den Produkten wie dem Radiergummi dagegen die maskuline. Ich verwende im
Folgenden daher einheitlich die männliche Form, zumal man die unten beschriebenen
Befunde statistisch zumindest leicht überwiegend mit den Männern oder Jungs verbinden
möchte, vorbehaltlich exakter gentechnologischer Untersuchungen.
Also: Der Gummi ist in jeder Kirche. Glaube ich. Vielleicht nicht in
einer ganz neuen. Oder in einer gerade wieder hergerichteten. Aber ansonsten:
Nach einer gewissen Zeit der ausgelassenen Nutzung des Bethauses stemmt er quasi
die Kirchenbänke in die Höhe. Oder klebt zumindest unter praktisch jeder Bank.
Nach meiner aktuellen Empirie kommt auf etwa jeden halben Meter statistisch
mindestens ein Kaugummi – das macht bei ca. 100 laufenden Bankmetern eines
mittelgroßen Gotteshauses locker 200 Klumpen, Flatschen oder Baby-Stalaktiten.
Man mag in dieser nur auf den ersten Blick so wesensverschiedenen
Partnerschaft sogar signifikante Parallelen identifizieren: Adhäsion und
Kohäsion sind zentrale Elemente von Gemeinschaften oder Gemeinden, nicht nur der EU. Und der
elastische Zusammenhalt definiert ebenso die Qualität eines guten Kaugummis.
Die repetitiven Kaubewegungen mag man ferner mit dem Prinzip der Wiederholung,
Rhythmik und ritueller Übung vergleichen, wie sie typisch sind für das Vermitteln
und Praktizieren fast jeder Welterklärung. Und Kirche und Gummi koexistieren
nicht etwa nur, sondern bilden auch ein gegenseitig nützliches, daher
symbiotisches Miteinander. Wird doch dem Kaugummi-Kauen über die
durchblutungssteigernden und anregenden Wirkungen eine physiologisch positive
Wirkung für Gesundheit, Wachheit und Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeit!!!) zugeschrieben.
Und wirkt nicht im Gegenzug der sanfte liturgische Zwang zu klarer Sprache oder
reiner Singstimme für ein programmiertes verstohlenes Entäußern der zähen
Masse, dann gleichzeitig für einen baldigen Neubedarf und für den gestärkten
Umsatz und evolutionären Erfolg des Gummis? Darwin hätte es jedenfalls so
gesehen.
Vergessen wir auch nicht die hochbefriedigende Wirkung eines, und sei
es auch nur bescheiden kleinen, selbst gestalteten Produkts, Werks oder
Artefakts, das nachhaltiger vorzuhalten verspricht als alle sonstigen Emanationen
des individuellen Kirchenbesuchs. Zur Vereinfachung unterstellen wir im
Folgenden eine Kirche von 30 Metern Länge: Der optische Eindruck des
Kirchgängers ist schon während einer 10.000-stel Sekunde nach Verlassen
der Kirchentüre verflogen, seine hörbaren Lautungen nach etwa einer zehntel
Sekunde, die ihn umgebende individuelle Molekülwolke – das erweiterte Biom –
und etwaige olfaktorische Besonderheiten mögen immerhin noch im einstelligen
Stundenbereich forensisch nachweisbar bleiben. Aber ein unter die Bank geklebter
Kaugummi, der kann – mit später noch zu erörternden Änderungen seines
Aggregatzustandes – locker zehn, zwanzig oder gar hundert Jahre bestehen,
kann damit des Besuchers kurzes Einzelleben transzendieren. Und dies im
beschützenden Habitat einer Kirche selbst dann, wenn er als biodegradable
angepriesen worden sein sollte. Mit Beimengungen spezifischer DNA und mit dem
finalen Fingerabdruck, mit dem wir den Gummi unter die kühle Bank heften und im Wortsinn beeindrucken,
damit gibt er
sogar ein wie in Stein gehauenes Zeugnis von der unvernwechselbare Eigenart des
Künstlers ab! Nun denken wir einmal an majestätische Dome, weitläufige Paläste, kühn geschwungene Brücken - an alles das, womit sich die höherrangigen Erdenmenschen ganz typischerweise zu
verewigen gedenken: Dagegen ist doch ein kleiner Gummi mit einem ökologischen
Rucksack von höchstens 10 bis 20 cm3 CO2 eine wirklich
verantwortbare Alternative, nicht wahr?
Beispiel: forensisch nutzbare Abdrücke |
Von eher akademischem Interesse mag die auffällige Abstufung in der lokalen
Konzentration des prinzipiell ubiquitären Kaugummis sein: Relativ nahe
an der Kanzel ist der Besatz geringer – das mag einer vorbeugenden Autorität der
jeweiligen Gottesdienst-Leitung zuzuschreiben sein. Unerwartete Ausreißer gibt
es dennoch: Die gewöhnlich von Konfirmanden frequentierten Bänke sind tatsächlich
eher unauffällig, fast ohne Befall, während die gegenüber liegenden, eher vom Presbyterium
beanspruchten Bänke in Zahl, Frische und Farbe besonders reiche Frucht trugen.
Aber
auch diesen Gradienten können wir bruchlos mit der o.g. potenziellen Abschreckung
erklären: Die pädagogische Überzeugungskraft mag proportional der
Altersdifferenz wachsen – und umgekehrt schrumpfen oder gar ganz entfallen. Hinzugetreten
sein kann ein aus der Kriminologie bekannter Effekt: Verwahrlosende Stadtviertel
fördern weitere Delinquenz – vulgo: Ist der Ruf (einer Kirchenbank) erst
ruiniert, so klebt sich weiter ungeniert.
relativ hoher "Befall" |
Um auf die Varianz der oben angesprochenen Artefakte zurück zu kommen: Das
Gros der Kunstwerke ist in Form und Farbe zwar recht einfallslos; weit
überwiegen die tristen braun- oder ockerfarbenen, noch eher unbeholfen
modellierten Skulpturen.
Manche aber stechen in kühner Konkurrenz heraus. Eines etwa
erinnerte mich, ob geplant oder unbewusst inspiriert, an ein mit rotem Siegellack getropftes Herz – so eines hätte gut ein
Billett des hoffnungslos verliebten jungen Heinrich Heine an seine angeschmachtete
Hamburger Cousine Amalie verziert und verschlossen haben können. Oder ein Briefchen von Robert Schumanns Hand an seine Clara, als er sie noch nicht freien zu dürfen zu hoffen wagte,
aber bereits inbrünstig Heines "Buch der Lieder" zu seiner romantischen „Dichterliebe“ vertonte. Welch zarte, vielleicht
auch hier noch unerhörte Poesie!
erste Gestaltungsversuche |
Heinrich an Amalia, Robert an Clara? |
Wenn ich nun dennoch einem extensiven Montieren von Kaugummi-Automaten
an Kirchenportalen ganz und gar nicht das Wort reden möchte, so hat
dies eher kleinliche, egoistische und höchst zeitgenössische Ursachen. Ich habe
am vergangenen Samstag ca. drei Stunden liegend, robbend, schlängelnd, klopfend und schabend
unter und zwischen unseren Kirchbänken zugebracht, habe penibel all‘ die
hübschen Artefakte der Schwerkraft anheimgestellt und damit per eifernder Arbeit
in niedriger Gangart die aktuelle Renovierung unserer ca. 800 Jahre alten
Kirche ergänzt - durch ein höchstens fühlbares, nicht aber sichtbares Detail. Ein
wenig aus dieser sehr speziellen Erfahrung möchte ich hier zum Besten
geben – in der Hoffnung auf etwas präventive Wirkung oder als Anstoß, den
Dekalog um ein weiteres Gebot zu ergänzen:
„XI. Du sollst keinen Kaugummi unter Kirchenbänke pappen; verschluck‘ ihn lieber!“
Für etwaige Folgeprojekte andernorts oder zu anderen Zeiten: Stellt
man sich der oben beschriebenen Herausforderung, so sei man tapfer auf drei grundlegende
Phänotypen des Kaugummis gefasst.
1.
Der Gummi mit geschätztem Alter im einstelligen
Wochenbereich: Noch jung und biegsam, zieht ggfs. Fäden, gibt je nach Grad
des früheren Durchkauens und Geschmacksrichtung auch noch feine Duftnoten preis
– und muss mit einigem Zeitaufwand abgeschabt werden.
Typus 1: jung und biegsam |
2.
Die praktisch schon kristalline oder
mumifizierte Gummi-Leiche mit einem vermutlichen Alter im ein- bis
mehrstelligen Jahresbereich – hart, löst sich nur in Brocken, als Sand oder
gar als Feinstaub, kostet ebenfalls Kraft und Zeit. Obacht: Hier gilt es noch einen
sehr flachen, Flatschen-artigen Subtyp zu klassifizieren, den ich in Anlehnung
an die Hawaiianischen Schildvulkane aus flachverlaufender, dünnflüssiger Lava
als „Mauna-Loa“-Gummi benenne.
Er ist halt besonders dünnschichtig, granitartig durchgesintert und biestig hartnäckig...
Typus 2, Subtyp "Mauna Loa" |
3.
Und dann ist da noch der metamorphe
Zwischentyp mitten zwischen den bereits beschriebenen Grundformen, fast mein
Freund. Ich nenne ihn den „one-stroke-and-laugh“-chewing-gum. Denn er hat
ein geschätztes Alter im ein- bis niedrigen zweistelligen Monatsbereich,
ist äußerlich – gerade an der Grenzschicht zum Holz – zwar schon gefestigt, ist
aber drinnen noch zusammenhängend, gleicht also einem Käfer mit seinem stabilen
Außenskelett. Er lässt sich mit einem eleganten Spachtelstoß leicht vom Holz
heben und fällt sodann als Ganzes zu Boden, wiegt sich auf seinem konvexen
Rücken dort vielleicht noch ein paar Mal hin und her. Dann schon Ende im
Gelände. Fast ein Genuss, wenn man die Alternativen kennt.
Typus 3: der Käfer-artige |
Noch ein paar handwerkliche Tipps: Nehmen Sie einen recht neuen Spachtel, ganz konventionell mit Holzgriff; er sollte sich elastisch biegen lassen und seine Kanten sollten noch scharf, nicht etwa rundgewetzt sein. Mehr als ca. 4 cm Breite ist nicht erforderlich. Mit der vorderen Kante des Spachtelblatts kommen Sie zwar mit dem oben beschriebenen, kooperativen Typus 3 ("one-stroke-...") klar; bei den noch hochviskosen oder den bereits kristallinen, speziell "Mauna Loa" brauchen Sie aber zumeist die seitlichen Flanken: Dazu nehmen Sie den Spachtel beidhändig, biegen ihn leicht durch und führen die so entstehende Kehle flach schabend über das Holz. Arbeiten Sie immer in Richtung der Holzfasern, sonst beschädigen Sie die Oberfläche. Dies selbst an den Eichenbänken, die man mit den vor Jahren noch lustig sprudelnden Kirchensteuern einbauen konnte. Bei den durchgetrockneten Früchtchen (Typus 2) arbeiten Sie besser von sich weg - sonst sind Sie nach Ihrem guten Werk wie gepudert. Eine für dauerhafte Sicht gut belüftete Schutzbrille kann nie schaden.
Es war noch kurz erwogen worden: Man könnte schnell ein paar Jung-Christen beauftragen, die Bänke clean zu kratzen. Ich habe abgewinkt. Es wäre doch auch etwas schräg, den Nachwuchs ein Problem aufarbeiten zu lassen, was in seinen Ausprägungen locker älter sein möchte als er selbst. Und eigentlich werden wir der Jugend noch genug ungelöste bzw. selbst verbockte Problemlagen zurücklassen müssen. Presbyter und deren Altersgruppe liegen da schon näher (siehe auch den Befund zur lokalen Verteilung oben) - und, wie schon Kant in seiner gar nicht oft genug zu zitierenden Schrift "Zum ewigen Frieden" deutlich macht: Rückkopplung durch das vitale, fühlbare Verknüpfen von Handeln und Folgen ist ein besonders effizientes Instrument zum Steuern von Gemeinschaften, siehe dort insbesondere den "ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden", Reclam-Ausgabe S. 12f:
Ich weiß natürlich: Nach dem Gummi ist vor dem Gummi. Die Kirche wird so nicht bleiben. Drum meine inständige Bitte an all' die Gläubigen und die Ernsthaften in Nah und Fern: Lasst den Gummi draußen, und zwar an entsorgungsfreundlicher Stelle. Habt Ihr’s mal vergessen und droht der Gummi bei den Manifestationen des Glaubens aufzufallen oder zu stören: Schluckt ihn mannhaft herunter! Vergesst die Ammenmärchen über verklebte Mägen oder Darmtrakte; das sind für die allermeisten Fallgestaltungen reine urban legends. Oder führt in der Kirche ein Beißholz mit, wie es den Archäologen zufolge in Europa schon mehrtausendjährige Tradition hat.
Es war noch kurz erwogen worden: Man könnte schnell ein paar Jung-Christen beauftragen, die Bänke clean zu kratzen. Ich habe abgewinkt. Es wäre doch auch etwas schräg, den Nachwuchs ein Problem aufarbeiten zu lassen, was in seinen Ausprägungen locker älter sein möchte als er selbst. Und eigentlich werden wir der Jugend noch genug ungelöste bzw. selbst verbockte Problemlagen zurücklassen müssen. Presbyter und deren Altersgruppe liegen da schon näher (siehe auch den Befund zur lokalen Verteilung oben) - und, wie schon Kant in seiner gar nicht oft genug zu zitierenden Schrift "Zum ewigen Frieden" deutlich macht: Rückkopplung durch das vitale, fühlbare Verknüpfen von Handeln und Folgen ist ein besonders effizientes Instrument zum Steuern von Gemeinschaften, siehe dort insbesondere den "ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden", Reclam-Ausgabe S. 12f:
'Wenn ... die Beystimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg seyn solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten [als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Haabe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Uebermaße des Uebels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, wegen naher immer neuer Kriege nie zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.'
Ich weiß natürlich: Nach dem Gummi ist vor dem Gummi. Die Kirche wird so nicht bleiben. Drum meine inständige Bitte an all' die Gläubigen und die Ernsthaften in Nah und Fern: Lasst den Gummi draußen, und zwar an entsorgungsfreundlicher Stelle. Habt Ihr’s mal vergessen und droht der Gummi bei den Manifestationen des Glaubens aufzufallen oder zu stören: Schluckt ihn mannhaft herunter! Vergesst die Ammenmärchen über verklebte Mägen oder Darmtrakte; das sind für die allermeisten Fallgestaltungen reine urban legends. Oder führt in der Kirche ein Beißholz mit, wie es den Archäologen zufolge in Europa schon mehrtausendjährige Tradition hat.
Merke: An der Griffkante mit Kaugummi verklebte Kirchenbänke sind sehr real –
und nach weit überwiegender Auffassung ekelhaft.
Weiterführende Hinweise:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kaugummi,
auch zu den mittel- und nordamerikanischen Ursprüngen des heute vorherrschenden Produkts, zur
kommerziellen Entwicklung und zu den physiologischen Wirkungen
https://de.wikipedia.org/wiki/Mauna_Loa,
zum Subtyp der o.g. Nr. 2
http://uliswahlblog.blogspot.com/2014/12/herschels-haufen-weihnachtsbaum-vs.html, falls es beim Lesen gerade Vorweihnachtszeit ist und wenn Sie Näheres zum Weihnachtsbaum, zur Astronomie und zur morgenländischen Wiege der modernen Wissenschaften interessiert.
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