Dienstag, 3. Dezember 2019

Die Kirche und der Gummi


Der Gummi ist in jeder Kirche.

Exkurs: Der oder das Gummi? Tja: Im Deutschen gibt es, kein Ausländer würde es je von uns erwarten, eine ganze Reihe von Substantiven ohne amtlich definiertes Geschlecht. Dazu gehört auch Gummi und die diversen Produkte aus elastischem Kautschuk- oder Latex-Material, ob Radier-, Kau-Gummi, Verhüterlis und vieles mehr. Beim Grundstoff überwiegt in der Praxis die sächliche Wortform, also „das Gummi“, bei den Produkten wie dem Radiergummi dagegen die maskuline. Ich verwende im Folgenden daher einheitlich die männliche Form, zumal man die unten beschriebenen Befunde statistisch zumindest leicht überwiegend mit den Männern oder Jungs verbinden möchte, vorbehaltlich exakter gentechnologischer Untersuchungen.

Also: Der Gummi ist in jeder Kirche. Glaube ich. Vielleicht nicht in einer ganz neuen. Oder in einer gerade wieder hergerichteten. Aber ansonsten: Nach einer gewissen Zeit der ausgelassenen Nutzung des Bethauses stemmt er quasi die Kirchenbänke in die Höhe. Oder klebt zumindest unter praktisch jeder Bank. Nach meiner aktuellen Empirie kommt auf etwa jeden halben Meter statistisch mindestens ein Kaugummi – das macht bei ca. 100 laufenden Bankmetern eines mittelgroßen Gotteshauses locker 200 Klumpen, Flatschen oder Baby-Stalaktiten.

Man mag in dieser nur auf den ersten Blick so wesensverschiedenen Partnerschaft sogar signifikante Parallelen identifizieren: Adhäsion und Kohäsion sind zentrale Elemente von Gemeinschaften oder Gemeinden, nicht nur der EU. Und der elastische Zusammenhalt definiert ebenso die Qualität eines guten Kaugummis. Die repetitiven Kaubewegungen mag man ferner mit dem Prinzip der Wiederholung, Rhythmik und ritueller Übung vergleichen, wie sie typisch sind für das Vermitteln und Praktizieren fast jeder Welterklärung. Und Kirche und Gummi koexistieren nicht etwa nur, sondern bilden auch ein gegenseitig nützliches, daher symbiotisches Miteinander. Wird doch dem Kaugummi-Kauen über die durchblutungssteigernden und anregenden Wirkungen eine physiologisch positive Wirkung für Gesundheit, Wachheit und Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeit!!!) zugeschrieben. Und wirkt nicht im Gegenzug der sanfte liturgische Zwang zu klarer Sprache oder reiner Singstimme für ein programmiertes verstohlenes Entäußern der zähen Masse, dann gleichzeitig für einen baldigen Neubedarf und für den gestärkten Umsatz und evolutionären Erfolg des Gummis? Darwin hätte es jedenfalls so gesehen.

Vergessen wir auch nicht die hochbefriedigende Wirkung eines, und sei es auch nur bescheiden kleinen, selbst gestalteten Produkts, Werks oder Artefakts, das nachhaltiger vorzuhalten verspricht als alle sonstigen Emanationen des individuellen Kirchenbesuchs. Zur Vereinfachung unterstellen wir im Folgenden eine Kirche von 30 Metern Länge: Der optische Eindruck des Kirchgängers ist schon während einer 10.000-stel Sekunde nach Verlassen der Kirchentüre verflogen, seine hörbaren Lautungen nach etwa einer zehntel Sekunde, die ihn umgebende individuelle Molekülwolke – das erweiterte Biom – und etwaige olfaktorische Besonderheiten mögen immerhin noch im einstelligen Stundenbereich forensisch nachweisbar bleiben. Aber ein unter die Bank geklebter Kaugummi, der kann – mit später noch zu erörternden Änderungen seines Aggregatzustandes – locker zehn, zwanzig oder gar hundert Jahre bestehen, kann damit des Besuchers kurzes Einzelleben transzendieren. Und dies im beschützenden Habitat einer Kirche selbst dann, wenn er als biodegradable angepriesen worden sein sollte. Mit Beimengungen spezifischer DNA und mit dem finalen Fingerabdruck, mit dem wir den Gummi unter die kühle Bank heften und im Wortsinn beeindrucken,
Beispiel: forensisch nutzbare Abdrücke
damit gibt er sogar ein wie in Stein gehauenes Zeugnis von der unvernwechselbare Eigenart des Künstlers ab! Nun denken wir einmal an majestätische Dome, weitläufige Paläste, kühn geschwungene Brücken - an alles das, womit sich die höherrangigen Erdenmenschen ganz typischerweise zu verewigen gedenken: Dagegen ist doch ein kleiner Gummi mit einem ökologischen Rucksack von höchstens 10 bis 20 cm3 CO2 eine wirklich verantwortbare Alternative, nicht wahr?

Von eher akademischem Interesse mag die auffällige Abstufung in der lokalen Konzentration des prinzipiell ubiquitären Kaugummis sein: Relativ nahe an der Kanzel ist der Besatz geringer – das mag einer vorbeugenden Autorität der jeweiligen Gottesdienst-Leitung zuzuschreiben sein. Unerwartete Ausreißer gibt es dennoch: Die gewöhnlich von Konfirmanden frequentierten Bänke sind tatsächlich eher unauffällig, fast ohne Befall, während die gegenüber liegenden, eher vom Presbyterium beanspruchten Bänke in Zahl, Frische und Farbe besonders reiche Frucht trugen.
relativ hoher "Befall"
Aber auch diesen Gradienten können wir bruchlos mit der o.g. potenziellen Abschreckung erklären: Die pädagogische Überzeugungskraft mag proportional der Altersdifferenz wachsen – und umgekehrt schrumpfen oder gar ganz entfallen. Hinzugetreten sein kann ein aus der Kriminologie bekannter Effekt: Verwahrlosende Stadtviertel fördern weitere Delinquenz – vulgo: Ist der Ruf (einer Kirchenbank) erst ruiniert, so klebt sich weiter ungeniert.

Um auf die Varianz der oben angesprochenen Artefakte zurück zu kommen: Das Gros der Kunstwerke ist in Form und Farbe zwar recht einfallslos; weit überwiegen die tristen braun- oder ockerfarbenen, noch eher unbeholfen modellierten Skulpturen.
erste Gestaltungsversuche
Manche aber stechen in kühner Konkurrenz heraus. Eines etwa erinnerte mich, ob geplant oder unbewusst inspiriert, an ein mit rotem Siegellack getropftes Herz – so eines hätte gut ein Billett des hoffnungslos verliebten jungen Heinrich Heine an seine angeschmachtete Hamburger Cousine Amalie verziert und verschlossen haben können. Oder ein Briefchen von Robert Schumanns Hand an seine Clara, als er sie noch nicht freien zu dürfen zu hoffen wagte, aber bereits inbrünstig Heines "Buch der Lieder" zu seiner romantischen „Dichterliebe“ vertonte. Welch zarte, vielleicht auch hier noch unerhörte Poesie!
Heinrich an Amalia, Robert an Clara?

Wenn ich nun dennoch einem extensiven Montieren von Kaugummi-Automaten an Kirchenportalen  ganz und gar nicht das Wort reden möchte, so hat dies eher kleinliche, egoistische und höchst zeitgenössische Ursachen. Ich habe am vergangenen Samstag ca. drei Stunden liegend, robbend, schlängelnd, klopfend und schabend unter und zwischen unseren Kirchbänken zugebracht, habe penibel all‘ die hübschen Artefakte der Schwerkraft anheimgestellt und damit per eifernder Arbeit in niedriger Gangart die aktuelle Renovierung unserer ca. 800 Jahre alten Kirche ergänzt - durch ein höchstens fühlbares, nicht aber sichtbares Detail. Ein wenig aus dieser sehr speziellen Erfahrung möchte ich hier zum Besten geben – in der Hoffnung auf etwas präventive Wirkung oder als Anstoß, den Dekalog um ein weiteres Gebot zu ergänzen: 
XI. Du sollst keinen Kaugummi unter Kirchenbänke pappen; verschluck‘ ihn lieber!
Für etwaige Folgeprojekte andernorts oder zu anderen Zeiten: Stellt man sich der oben beschriebenen Herausforderung, so sei man tapfer auf drei grundlegende Phänotypen des Kaugummis gefasst.

1.       Der Gummi mit geschätztem Alter im einstelligen Wochenbereich: Noch jung und biegsam, zieht ggfs. Fäden, gibt je nach Grad des früheren Durchkauens und Geschmacksrichtung auch noch feine Duftnoten preis – und muss mit einigem Zeitaufwand abgeschabt werden.
Typus 1: jung und biegsam

2.       Die praktisch schon kristalline oder mumifizierte Gummi-Leiche mit einem vermutlichen Alter im ein- bis mehrstelligen Jahresbereich – hart, löst sich nur in Brocken, als Sand oder gar als Feinstaub, kostet ebenfalls Kraft und Zeit. Obacht: Hier gilt es noch einen sehr flachen, Flatschen-artigen Subtyp zu klassifizieren, den ich in Anlehnung an die Hawaiianischen Schildvulkane aus flachverlaufender, dünnflüssiger Lava als Mauna-Loa“-Gummi benenne. Er ist halt besonders dünnschichtig, granitartig durchgesintert und biestig hartnäckig...
Typus 2, Subtyp "Mauna Loa"



3.       Und dann ist da noch der metamorphe Zwischentyp mitten zwischen den bereits beschriebenen Grundformen, fast mein Freund. Ich nenne ihn den „one-stroke-and-laugh“-chewing-gum. Denn er hat ein geschätztes Alter im ein- bis niedrigen zweistelligen Monatsbereich, ist äußerlich – gerade an der Grenzschicht zum Holz – zwar schon gefestigt, ist aber drinnen noch zusammenhängend, gleicht also einem Käfer mit seinem stabilen Außenskelett. Er lässt sich mit einem eleganten Spachtelstoß leicht vom Holz heben und fällt sodann als Ganzes zu Boden, wiegt sich auf seinem konvexen Rücken dort vielleicht noch ein paar Mal hin und her. Dann schon Ende im Gelände. Fast ein Genuss, wenn man die Alternativen kennt.
Typus 3: der Käfer-artige

Noch ein paar handwerkliche Tipps: Nehmen Sie einen recht neuen Spachtel, ganz konventionell mit Holzgriff; er sollte sich elastisch biegen lassen und seine Kanten sollten noch scharf, nicht etwa rundgewetzt sein. Mehr als ca. 4 cm Breite ist nicht erforderlich. Mit der vorderen Kante des Spachtelblatts kommen Sie zwar mit dem oben beschriebenen, kooperativen Typus 3 ("one-stroke-...") klar; bei den noch hochviskosen oder den bereits kristallinen, speziell "Mauna Loa" brauchen Sie aber zumeist die seitlichen Flanken: Dazu nehmen Sie den Spachtel beidhändig, biegen ihn leicht durch und führen die so entstehende Kehle flach schabend über das Holz. Arbeiten Sie immer in Richtung der Holzfasern, sonst beschädigen Sie die Oberfläche. Dies selbst an den Eichenbänken, die man mit den vor Jahren noch lustig sprudelnden Kirchensteuern einbauen konnte. Bei den durchgetrockneten Früchtchen (Typus 2) arbeiten Sie besser von sich weg - sonst sind Sie nach Ihrem guten Werk wie gepudert. Eine für dauerhafte Sicht gut belüftete Schutzbrille kann nie schaden.

Es war noch kurz erwogen worden: Man könnte schnell ein paar Jung-Christen beauftragen, die Bänke clean zu kratzen. Ich habe abgewinkt. Es wäre doch auch etwas schräg, den Nachwuchs ein Problem aufarbeiten zu lassen, was in seinen Ausprägungen locker älter sein möchte als er selbst. Und eigentlich werden wir der Jugend noch genug ungelöste bzw. selbst verbockte Problemlagen zurücklassen müssen. Presbyter und deren Altersgruppe liegen da schon näher (siehe auch den Befund zur lokalen Verteilung oben) - und, wie schon Kant in seiner gar nicht oft genug zu zitierenden Schrift "Zum ewigen Frieden" deutlich macht: Rückkopplung durch das vitale, fühlbare Verknüpfen von Handeln und Folgen ist ein besonders effizientes Instrument zum Steuern von Gemeinschaften, siehe dort insbesondere den "ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden", Reclam-Ausgabe S. 12f:

'Wenn ... die Beystimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg seyn solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten [als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Haabe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Uebermaße des Uebels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, wegen naher immer neuer Kriege nie zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen], sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.'

Ich weiß natürlich: Nach dem Gummi ist vor dem Gummi. Die Kirche wird so nicht bleiben. Drum meine inständige Bitte an all' die Gläubigen und die Ernsthaften in Nah und Fern: Lasst den Gummi draußen, und zwar an entsorgungsfreundlicher Stelle. Habt Ihr’s mal vergessen und droht der Gummi bei den Manifestationen des Glaubens aufzufallen oder zu stören: Schluckt ihn mannhaft herunter! Vergesst die Ammenmärchen über verklebte Mägen oder Darmtrakte; das sind für die allermeisten Fallgestaltungen reine urban legends. Oder führt in der Kirche ein Beißholz mit, wie es den Archäologen zufolge in Europa schon mehrtausendjährige Tradition hat.

Merke: An der Griffkante mit Kaugummi verklebte Kirchenbänke sind sehr real – und nach weit überwiegender Auffassung ekelhaft.

Weiterführende Hinweise:

https://de.wikipedia.org/wiki/Kaugummi, auch zu den mittel- und nordamerikanischen Ursprüngen des heute vorherrschenden Produkts, zur kommerziellen Entwicklung und zu den physiologischen Wirkungen

https://de.wikipedia.org/wiki/Mauna_Loa, zum Subtyp der o.g. Nr. 2

http://uliswahlblog.blogspot.com/2014/12/herschels-haufen-weihnachtsbaum-vs.html, falls es beim Lesen gerade Vorweihnachtszeit ist und wenn Sie Näheres zum Weihnachtsbaum, zur Astronomie und zur morgenländischen Wiege der modernen Wissenschaften interessiert. 




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