Beim Hammelsprung müssen alle anwesenden (oder blitzartig alarmierten und herbeigeeilten) Abgeordneten durch eine Türe in den Saal zurück und werden sorgsam gezählt. 268 springen, 311 hätten springen müssen. Also Feststellung der Beschlussunfähigkeit - und die zahlreichen verbleibenden Tagesordnungspunkte bleiben auf der Tagesordnung, müssen dann bei den folgenden Terminen irgendwie dazwischen gequetscht werden. Zur Zeit des Antrags sollen nach der Berichterstattung gar nur ca. 50 Profi-Demokraten auf ihrem Platz gewesen sein, zwei MdB-Hundertschaften konnte noch zum "Rücksturz zum Reichstag" animiert werden. Manche mögen auch "gepairt" haben, das ist in der manierierten Choreographie des deutschen Parlaments die Verabredung, dass je zwei Abgeordnete der Regierungskoalition und der Opposition gleichzeitig fernbleiben - und damit dann abstimmungs-arithmetisch unvorhersehbare Ergebnisse vermeiden.
Also: Alle MdB's dürfen dann am lauen Freitagabend zurück ins Private springen, ggfs. an ihr noch nicht ganz ausgetrunkenes Bier, das Sitzungsgeld wohl inklusive. Die aus Sicht der Bürger und Abordnenden ja nicht einmal unschlüssige Frage nach Präsenz und Beschlussfähigkeit wird später gallig kommentiert, als eine Art whistleblowing, fast wie im Falle Manning, oder als Verstoß gegen die guten Sitten des Parlamentarismus. Ein um diese Tageszeit hauchdünner oder gertenschlanker Bundestag, das wäre doch schließlich gang und gäbe! Der Abgeordnete Volker Beck, alter Fahrensmann der Bündnis-Grünen und ordentliches Mitglied des Ältestenrates und des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (!), soll kommentiert haben, dies sei eine "Aktion ohne Zweck und Sinn". Auch das Wort vom "Rad ab", das ich als Einradfahrer bestens kenne, soll gefallen sein.
Falls mich einer fragen möchte: Ich will eigentlich für mein Steuergeld die chefmäßige demokratische Leistung unserer nach Berlin Abgesandten, will sagen, Anwesenheit bis zum Ende der Tagesordnung, sofern kein Attest / kein Entschuldigungsgrund oder ein ausnahmsweise vorgehender parlamentarischer Termin nachgewiesen wird. Und ich hoffe doch, Sitzungsgeld gibt's nur für ganz durchlebte Plenarsitzungen, nicht schon ab den ersten fünf Minuten, nach denen man sich dann mit einem Weg über das WC einen schlanken Fuß macht und launig absentiert oder sich persönlich abordnet. Onkel Herbert, beim Erfüllen parlamentarischer Pflichten unbestritten ein, wenn nicht das Vollblut, stimmt mir sicher aus höheren Sphären zu: Absentismus ist kein Qualitätsmerkmal des Parlamentarismus.
Nachtrag 16.6.2013:
Interessehalber habe ich noch bei Herrn Wunderlich nachgefragt: Wie verhält es sich tatsächlich mit Anwesenheit und Sitzungsgeld? Oder: braucht es jeweils nur eine juristische Sekunde im Bundestag, um das Geld für den jeweiligen Tag zu kassieren? Antwort: Es ist nicht einmal eine juristische Sekunde in der fraglichen Sitzung vonnöten. Der/die Abgeordnete braucht sich bloß in eine vorher ausgelegte Anwesenheitsliste einzutragen und könnte dann auch seiner Wege gehen, siehe im Einzelnen §14 des Abgeordnetengesetzes. Man sollte sein Bier nur nicht zu weit vom Bundestag entfernt einschenken lassen: Wenn am Ende z.B. eine namentliche Abstimmung stattgefunden hätte und man nicht noch schnell zur Stelle gerufen werden konnte, dann würden von der monatlichen Kostenpauschale mal 50€ abgezogen, §14 Abs. 2 des Abgeordnetengesetzes. Nun kann man sich erklären, warum bei den abendlichen Stimmungsbildern aus den Nachrichtensendungen meist so wenige MdB's sichtbar sind - und warum der Bundestag nach der Papierform der Anwesenheitsliste dennoch theoretisch proppevoll ist und dies dann für die real Abwesenden auch nicht wirklich ruinös ausgeht. Dass dann aber alle Anträge und Gesetzentwürfe im Bundestag mit derjenigen repräsentativen Intelligenz geprüft und debattiert worden wären, die wir gewählt haben und standesgemäß finanzieren, das können wir freilich nicht annehmen, nicht wahr?
Vielleicht hatte sich der LINKEN-Abgeordnete aber auch einfach nur zu lange darüber geärgert, dass die große Mehrheit der Abgeordneten die parlamentarischen Reden und Initiativen der LINKEN rituellerweise mit hörbarem, desinteressiertem Schweigen quittieren - so als wäre das Parlament ohnehin ganz leer. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder! Wie im Sandkasten.
Möglicherweise aber ließe sich das Problem mit einem meiner Wahlpunkte lösen: Abschied der MdB's aus dem Bundestag nicht ad calendas Graecas hinausgeschoben, sondern nach maximal zwei aufeinander folgenden Wahlperioden; Wiederwahl nach einer Auszeit i.H.v. einer Legislaturperiode nicht ausgeschlossen. Man sagt, ein wacher Geist braucht viel Abwechslung. Oder, wie schon der alte Römer sagte "varietas delectat", der Unterschied erfreut. Zu langes Genießen des Parlamentarismus kann offenbar - was wir gewöhnlichen Sterblichen kaum nachvollziehen können - stark ermüden und qualvoll langweilen, und das wollen wir doch alle nicht. Ich möchte es allerdings nach den obigen Erfahrungen noch darum ergänzen: Wir wollen künftig unsere Abgeordneten (wie fast alle Arbeitnehmer) nach tatsächlich erbrachter Zeit alimentieren, hier also nach der effektiven Zeit im Parlament, sprechend oder auch nur hörend.
Anm.: Das Foto oben zeigt den Reichstag, nachgebaut mittels eines knuffigen, postkartengroßen Bastelbogens, also als Pappmodell. Die Vorlage gibt's unter www.berlinerluft.org, genauer hier, übrigens neben vielen anderen netten Berliner Modellen: u.a. der Siegesspargel, ein Mauerstück und sogar Erichs längst ausgeknipster Lampenladen, a.k.a. Palast der Republik. Mit dem Pappparlament kann jeder die beschriebene Standardszene daheim realitätsnah und repräsentativ nachstellen.
Do it yourself - democracy!
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