Dienstag, 13. August 2013

Lobby und der Wirkungsgrad von Demokratie

Die derzeit 620 Abgeordneten repräsentieren nicht nur eine jeweils große Anzahl von Bürgern - und diese sollten prinzipiell mit gleichen Chancen vertreten sein - die 620 Abgeordneten verkörpern auch ein 1240-Augen-Prinzip, das Macht auffächern und kontrollieren soll. Wo Macht stark hierarchisch gehandhabt wird, wird der Einfluss auf wenige zu einem wirksamen Transmissionsriemen. Man kann damit einen ganzen Staat an der Nase herumführen. Die Qualität dieses Einflusses ist keinerlei Geheimnis. Mit dem 'Wissenschaftspreis für Arbeiten zum Parlamentarismus' („-ismen“ machen mich sowieso immer skeptisch) wurde im Jahre 1998 die Lobbyismus-Studie von Martin Sebaldt mit dem Titel "Organisierter Pluralismus" ausgezeichnet (Westdeutscher Verlag, Opladen 1997); Sebaldt schreibt in seinem empirisch eingehend belegten Werk etwa:
Lobbyisten und politische Entscheidungsträger profitieren von einer derart ausgeglichenen Beziehungsstruktur gleichermaßen; vielfach bekommt sie sogar symbiotischen Charakter, jeder ist auf den Partner angewiesen: Der Verbandsvertreter benötigt die Macht des politischen Akteurs, dieser aber die Informationen und die Schützenhilfe des Lobbyisten (S. 374). Auf der Alltagsebene entwickeln sich dabei durchweg recht stabile und verlässliche Arbeitsbeziehungen (ebenda). Das inoffizielle Wirken wird dem offiziellen - weil effektiver - durchweg vorgezogen (S. 378).

So wertet nicht etwa nur Lieschen Müller; dies war wie gesagt ein vom Bundestag preisgekrönter Wissenschaftler nach umfassender Recherche vor Ort. Sebaldt würdigt auch das eingespielte Verhältnis zwischen den Verbänden und den Medien (S. 370ff). Ziehen wir in Betracht, dass auch Medien und Politik beständig Leistungen und Dienste - Information gegen Publizität - austauschen, so ergibt sich ein symbiotisches Dreieck und mit dem vierten (oder ersten) relevanten Mitspieler, der Wirtschaft, ein symbiotischer Raum - ein Kernelement der realen politischen Willensbildung. Anmerkung: Das Miteinander von Wirtschaft, Politik und Presse war offenbar auch aktiv im Parteispendenskandal. Die F.A.Z. berichtete am 3.2.2000 über den Pressevertrieb Hannes Müller, den langjährigen Haupt-Spendensammler der CDU:
"Seine Mitarbeiter verkauften Unternehmensanzeigen in CDU-nahen oder im Eigentum der CDU stehenden Zeitschriften an gebefreudige Unternehmen - ein Vorgang, der schon in den Zusammenhang der Spendenaquisition gehört."

Korruption und insbesondere Finanzflüsse zwischen Wirtschaft, Lobby und Politik erwähnt Sebaldts Lobbyismus-Studie nicht. Bei der feierlichen Verleihung des "Wissenschaftspreises des Deutschen Bundestages für Arbeiten zum Parlamentarismus" am 12.3.1998 wurde das Thema nur gestreift; es herrschte der Eindruck vor, Lobbyismus sei eine ganz unspektakuläre, eingefahrene Praxis der Versorgung der Politik mit Sachinformationen und bei den Lobbyisten springe allenfalls ein - allerdings strategisch höchst wichtiger - Vorteil der frühzeitigen Information durch Insider heraus. 

Exkurs: Diese für die Macht-Soziologie einer real existierenden Demokratie sehr aufschlussreiche Veranstaltung ist leider im Internet nicht offiziell dokumentiert. Ich habe mir daher die Mitschrift besorgt und auf meiner Internetseite abgelegt – zum zeilenweisen Nachschmecken für alle Bürger/innen.


Immerhin bemerkte der zum Preiskomitee gehörende Prof. Dr. Ulrich von Alemann, nachdem er die Flick-Affäre als "böse, aber sicherlich große Ausnahme" eingeordnet hatte, sehr hellsichtig:
"Aber leider ist es ja mit der Korruption und mit solchen schwarzen Erscheinungen so, dass die erfolgreichsten Praktiken nie herauskommen. Insofern weiß man nicht, ob es vielleicht irgendwo noch eine Flick-Affäre gibt, gegeben hat oder noch geben wird." (Protokoll der Verleihungs-Sitzung, S. 22)

Wie wir heute wissen, gab es sie auch im Jahre 1998 sehr intensiv. Bemerkenswert sind ferner die Stellungnahmen von Dr. Peter Spary in der gleichen Sitzung. Spary war von Capital zum "Cheflobbyisten des Mittelstandes" ernannt worden, was er als besonders hohe Auszeichnung ansah, "vergleichbar dem Handwerkszeichen in Gold". Er blickte im Jahre 1998 bereits auf 34 Jahre als Interessenvertreter zurück, davon 26 Jahre innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und 23 Jahre als angestellter Geschäftsführer für den Mittelstand (Protokoll S. 18). Für Spary waren alle Probleme der Parteifinanzierung durch Offenlegung der Spenden ein für allemal vom Tisch:
"Seit das in der Bundestagsdrucksache öffentlich gemacht worden ist, interessiert sich noch nicht einmal mehr ein Journalist für diese Thematik, weil es da nichts Spektakuläres gibt. Auch wenn ein einzelner Abgeordneter Wahlkampfhilfe bekommt, muss er Transparenz gelten lassen, sonst zieht ihm die Präsidentin die Ohren lang. Diese Transparenz ist absolut gewährleistet." (Protokoll S. 23).

Spary betonte noch mit einigem Stolz, dass seine Arbeit aus guter Erfahrung auf hoher Ebene ansetzt:
"Wir setzen mehr auf den Kontakt zum Politiker als zum Ministerialbürokraten, weil der Politiker die Richtung angibt. Es hat sich mehr und mehr herausgestellt, dass die wichtigen Gesetzgebungsvorhaben eben nicht von den A-16- oder B-3-Leuten gemacht werden, sondern von Politikern, die die Richtung angeben; die anderen formulieren das dann intelligent aus. Die bringen dann die Verordnungen und die Kommentare dazu auf den Markt, was auch eine sympathische Nebenbeschäftigung ist." (Protokoll S. 19)

Anm. Voss: Das hat mich als B3-Mann selbstverständlich sehr berührt, insbesondere das Lob für auftragsgemäß funktionierende Intelligenz ;-)

Die übrigen Beteiligten hatten Lobbyismus mehrheitlich als eher unspektakuläre, gut geregelte Erscheinung auf der Arbeitsebene geortet, u.a. deswegen, weil die Kontaktpartner nach ihrer Einschätzung fast nur der Administration angehörten, nicht der Politik, insbesondere nicht der höheren Politik. Anm.: Dann freilich hätten sich die Lobbyisten nach einer neuen Gattungsbezeichnung umsehen müssen: Lobby ist von alters her die Wandelhalle des Parlaments, nicht der Bürokratie. Aus heutiger Sicht zu bagatellisierend war auch die zusammenfassende Darstellung der Sebaldt-Studie auf der Homepage des Bundestages (heute nicht mehr zugreifbar, habe sie darum eingescannt). 

Völlig einig war man sich am 12.3.1998 immerhin: Es läuft für den am besten, der alle Fäden in der Hand hält:
"Wenn Sie eine bestimmte Entwicklung befürchten oder wissen, dass da was in der Regierung läuft, und Sie wollen, dass das auf den Tisch kommt: Dann brauchen Sie einen Abgeordneten, der eine Anfrage stellt... Optimal ist es natürlich, wenn Sie dem Abgeordneten die Frage schreiben und dem Staatssekretär die Antwort. Dann haben Sie Ihr Geld für den Monat verdient!" (Sebaldt S. 355 unter Zitat eines Gesprächs im Rahmen seiner Feldstudie, Protokoll S. 12).

Die Preisverleihung am 12.3.1998 stand unter dem Motto: "Der Abgeordnete im Visier der Verbände. Mythos und Realität des Lobbyismus im Parlament". von Alemann wies in diesem Zusammenhang auf eine besonders langfristig angelegte Austauschbeziehung zwischen Parlament und Verbänden hin, die auch nicht für eine unabhängige Ausübung des Mandats spricht:
"Herr Spary hat das mit der nach-parlamentarischen Karriere von manchen Abgeordneten angedeutet, die in Verbänden ihr Auskommen finden. Es ist also vielleicht umgekehrt: Nicht der Abgeordnete sitzt im Visier der Verbände, sondern die Verbände sitzen im Visier der Abgeordneten für eine nachparlamentarische Karriere." (Protokoll S. 21f; Hervorhebung von mir, würde hier noch ergänzen: "do ut des" - "Ich gebe in der Hoffnung auf eine Gegengabe")

Im Rahmen der Feierstunde äußerte die Präsidentin des Bundestages und zweite Bürgerin des Staates einen bemerkenswerten Wunsch. Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth beschwor geradezu die Anwesenden:
"Nach dem Motto 'Gemeinsam sind wir stark' wünsche ich mir, dass in dieser Vereinigung (Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen e.V., die den 'Wissenschaftspreis für Arbeiten zum Parlamentarismus' auslobt) eine Auseinandersetzung mit von Arnim stattfindet und dass wir uns stark genug fühlen und nicht der Diskussion ausweichen. Warum sage ich das? Es kann im Pluralismus nicht angehen, dass eine Stimme jeweils dominiert und andere Stimmen nicht gehört werden und dass fast der Eindruck erweckt wird, als hätten wir uns zu verstecken." (Protokoll S. 5)

Ein merkwürdiges Bild: Die zwergenhafte, in einer Ecke zusammengedrängte Volksvertretung in fast aussichtslosem, heroischem Kampf gegen einen unfairen, üblen Riesen. Vielleicht aber hatten die Parlamentarier als die wahre kritische Masse das zahlenmächtige Staatsvolk im Hinterkopf. Aus meiner Sicht sehr schief war auch der Ausklang der Verleihungssitzung am 12.3.1998 mit dem Abspann des Moderators der Veranstaltung, Prof. Dr. Heinrich Oberreuter:
"Kein partizipationsorientiertes System kann sich autonome Politik leisten. Ein solches System kann nur funktionieren, wenn die intermediären Instanzen funktionieren; das heißt, wenn auch die Verbände ihre wichtige Rolle wahrnehmen, Interessen zu artikulieren, Interessen zu transportieren und Interessen zu bündeln, damit sie bearbeitbar sind, und wenn sie zugleich, Herr Spary, gegenüber ihren Mitgliedern die Funktion übernehmen, das, was auf dem politischen Feld ausgehandelt worden ist, auch verlässlich durchzusetzen." (Protokoll S. 37, Hervorhebung von mir)

Das hieße, wenn es einen demokratischen Mehrwert des Verbandswesens belegen sollte: Auf wichtigen Politikfeldern fungieren die Verbände (auch) als ein verdienstvolles Medium zwischen Politik und Bürgern. Bei der völlig offen zugegebenen partikularistischen Zielsetzung bzw. Beauftragung der Verbände hege ich da tiefe Zweifel: Die Verbände und die von den Verbänden gerne in Anspruch genommene Pluralismus-Theorie sagen wohl: Die Vielfalt des Verbandswesens ergäbe - gleichsam automatisch - wieder ein insgesamt ausgewogenes Bild der Gemeinwohlorientierung (vgl. Sebaldt S. 223ff, 239f). Nur: dies ist für die Bürger wegen der sehr geringen Effizienz der Organisation von Bürgerinteressen nichts als schöner Schein. Als zu Beginn der Neunziger Jahre die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen der deutschen Wiedervereinigung geprägt wurden, saßen die Verbände in der ersten Reihe, nicht die Bürger. Und schon gar nicht die Bürger des Ostens, deren nahe und ferne Zukunft hier gestaltet wurde.

Ganz zum Schluss folgte eine am ehesten wohl selbstberuhigende Presse- und Bürgerschelte des Moderators:
"(Zur Funktion der Demokratie gehört) ein Grundvertrauen in unsere Amts- und Mandatsträger, und auch da, meine ich, ist unsere Kultur nicht auf dem besten und fortschrittlichen Wege. Wenn ich die demoskopischen Daten anschaue, dann hat sich das Vertrauen in die Institutionen und die Amtsinhabern - vorsichtig ausgedrückt - negativ entwickelt. Ich füge hinzu: Daran sind nicht immer die Institutionen und die Amtsinhaber schuld. Ganz im Gegenteil, oft sind es die Interpreten." (Protokoll S. 37)


In der Tat: Viele Bürger halten politische Entscheidungen für durch lobbyistische Einflüsse herbeiführbar, auch bei der Parteienfinanzierung durch Spenden. Es wird zwar gerne jeglicher kausale Zusammenhang zwischen einer finanziellen Zuwendung an eine Partei und geneigten politischen Entscheidungen bestritten; ich persönlich kenne allerdings niemanden, der dafür die Hand ins Feuer legen würde. 

Mir wäre sehr viel wohler, wenn es keinerlei Spenden zu Gunsten politischer Parteien geben würde, weder von Firmen, noch von Privatpersonen, weder an Parteien noch an ihre Organisationen, Betriebe oder Mitglieder. 

Ich halte es auch für sinnvoll, jeden Loyalitäts- und Gewissenskonflikt dadurch zu vermeiden, dass zwischen der Funktion eines Abgeordneten und seiner beruflichen Einbindung - etwa in eine Interessenvertretung - eine klare Grenze gezogen wird. Und zwar derart, dass für die Zeit des parlamentarischen Lebens die Orientierung aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ohne Wenn und Aber gilt: "Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Wenn wir eine Werte-orientierte Gemeinschaft sind, dann gehört dies zu den selbstverständlichen und zentralen Werten. 

Und mein Test für den Wirkungsgrad eines demokratischen Gesellschaftsentwurfs ist eigentlich recht einfach: Woher kommen die steuernden Impulse für parlamentarische und exekutive Initiativen? 

  • Kommen sie in einer senkrechten Meldelinie von den Bürger/innen, auch dort, wo ein Problem komplex wirkt oder dargestellt wird?
  • Oder kommen die entscheidenden Impulse waagerecht von der Seite, von den gewöhnlichen Verdächtigen, die sich gerne eines besonderen Wissensstandes und einer besonderen Verantwortung rühmen, die aber eines in jedem Falle haben: besondere Interessen.


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