Hinweis: Diese Feierstunde ist leider nicht im ansonsten sehr ausführlichen Internet-Angebot des Bundestages dokumentiert; man kann bzw. konnte sie allerdings kostenlos als Druckschrift anfordern. Das habe ich getan, die Denkschrift zur Arbeitserleichterung eingescannt und auf meiner Internetseite abgelegt. Warnung: Meine Randnotizen müssen Sie dabei mit hinnehmen.
Zum ersten Abschmecken zwei Zitate aus der Lehre - mit Kernelementen der Parlamentarismus-Philosophie:
"Ganz
allgemein stellt sich die Frage, ob das zunehmende Komplizierterwerden der
politischen Probleme und damit auch der politischen Entscheidungen nicht
überhaupt weitgehend den intellektuellen Rahmen sprengt, der
Voraussetzung echter politischer Entscheidungen durch das Staatsvolk ist."
"Verfassungstheoretisch
handelt es sich (bei der vom Autor postulierten rechtlichen Freistellung des
Parlaments von der Bindung an den unmittelbaren Volkswillen) um (...) eine hochmoderne
Antwort auf das oben schon angesprochene Problem, dass die heutigen politischen
Probleme sich infolge ihrer zunehmenden Komplexität der Beurteilung durch den
einfachen Aktivbürger immer mehr entziehen und dass eine Politik, die in 50
oder 100 Jahren auch vor dem Auge der dann lebenden Generation noch Bestand
haben soll, heute u.U. auf sehr wenig Verständnis stößt und daher ggfs. auch gegen,
zumindest aber ohne die Zustimmung der heute lebenden Menschen
durchgesetzt werden muss."
Und noch ein programmatisches Zitat:
"Politisches
Handeln darf nicht bestimmt sein von der kurzfristigen Befriedigung von Einzel-
oder Gruppeninteressen, deren Summe nicht schon das Gemeinwohl ergibt, sondern
muss geleitet sein von der dauerhaften Gesamtverantwortung für unser Volk. Nur
so kann es auch den Belangen von nicht organisierten Gruppen und der
zukünftigen Generationen gerecht werden. Eine verantwortungsvolle Politik muss
notwendige Entscheidungen auch gegen Widerstände in der öffentlichen Meinung zu
treffen bereit sein."
Kommt es auf den Punkt, so trauen selbst die Grünen ihrem theoretischen Mut nicht und reagieren in hergebrachter Weise Regenten-Rollen-konform. Als etwa Verheugen im September 2000 vorsichtig auf das demokratische Defizit bei der Gestaltung der Europäischen Union hingewiesen hatte, kommentierte der damals amtierende Außenminister Fischer:
"Das
ist nicht die Position der Bundesregierung. Allein die Vorstellung, dass wir
eine Volksabstimmung über den Beitritt Polens zur EU abhalten, das muss man
sich mal zu Ende bedenken."
"Mit
Reden und Dozieren ist es dabei (Anknüpfungspunkt: bei der klugen und
phantasievollen Ausfüllung des Begriffs Freiheit) nicht getan. Auch die
Demokratie muss, wenn ihr Wert vermittelt werden soll, spürbar sein, ja wieder
stärker spürbar werden. Ich kann mir beispielsweise durchaus mehr direkten
Einfluss der Bürger vorstellen, etwa das Kumulieren und Panaschieren der
Wählerstimmen auch bei Bundes- und Landtagswahlen (!), die Ausweitung der
Direktwahl von Bürgermeistern, die Verstärkung von Bürgerbegehren, zumindest
(!) auf kommunaler Ebene. Gerade auf der Ebene der Nachbarschaften ist der
Bürger ja in besonderem Maße zur Übernahme von Verantwortung bereit. Dort
können sogar "Frühwarnsysteme" für gesellschaftliche Entwicklungen
entstehen, die ein nur auf die Stimmen von Bürokratien und Verbänden hörender
Staat (!) leicht übersieht."
Einen zum Jubiläum des Bundestages nachdenklich stimmenden Aspekt führte am 7.9.1999 die Gastrednerin ein, Dr. Najma Heptulla, Präsidentin der Rates der Interparlamentarischen Union und Vizepräsidentin des Indischen Oberhauses. Sie forderte die Demokratisierung der internationalen Organisationen. Allen voran der Vereinten Nationen, die mehr werden müssten als eine bloße Veranstaltung von Regierungen. Schäuble winkte gleich ab: Er glaube nicht, dass "wir die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ebenen staatlicher oder öffentlich-rechtlicher Körperschaften in erster Linie durch Parlamente organisieren können." Das ginge in Deutschland wie in Europa nicht und weltweit wohl erst recht nicht. Dies führt aber gleich auf einen anderen, noch wesentlich kritischeren Punkt: Im Rahmen von Internationalisierung und Globalisierung gehen immer mehr Entscheidungsfelder an überstaatliche und zwischenstaatliche Instanzen und zunehmend auch an den nicht-öffentlichen Bereich "verloren". Und zwar ohne dass dort mindestens die gleiche demokratische Teilhabe gewährleistet würde wie in den nationalen Parlamenten. In der Konsequenz müsste das Parlament wegen ausgehender Zuständigkeit und Kompetenz eigentlich kontinuierlich schrumpfen - zumal die Bürger ja auch die neu hinzutretenden übernationalen Institutionen brav finanzieren.
Und ein letztes Mal zurück zum 7.9.1999, zu 50 Jahren Grundgesetz und nun zur Politikverdrossenheit. Schäuble glaubt nicht, dass das Interesse der Bürger am Parlament abnähme. In der Feierstunde präsentierte er für diese frohe These ein beinhartes Indiz. Der Fernsehkanal "Phoenix" habe seine höchsten Einschaltquoten gerade bei Debatten des Bundestages! Ich muss gestehen: Ich weiß nicht, womit der Bundestag in diesem Programm konkurriert. Interessant ist Schäubles aufatmende Folgerung: "Wir brauchen nicht zu resignieren." Das jetzt ist mehrdeutig und könnte heißen:
- Wir müssen nicht zurücktreten - oder -
- wir müssen das Volk noch nicht ganz abschreiben - oder -
- wir können uns weiter beherzt gegen alle Reformen stemmen.
Was genau kann er meinen bzw. was verspricht er für den Fall, dass der Bundestag bei Phoenix mal nicht mehr den Quotenbringer macht?
Und noch'n Zitat, mit Hervorhebungen von mir:
"Wir
sind uns alle der tragischen Folgen bewußt, die daraus entstanden sind, dass
vor ... Jahren das deutsche Volk die Aufgabe und die Verpflichtung des
deutschen Parlaments nicht verstanden hat. Erst die unheilvolle und
unbegründete Distanzierung zwischen Parlament und Volk, die trotz vieler
ehrlicher Bemühungen damals nicht hinreichend überwunden werden konnte, hat es
gewissenlosen Demagogen möglich gemacht, die Herrschaft in Deutschland an sich
zu bringen und unser ganzes Volk in ein namenloses Unglück zu stürzen. Es ist
an uns allen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, durch die Darstellung
unseres Wollens und durch unsere Arbeit daran mitzuwirken, dass heute eine
andere innere Verbindung zwischen Volk und Parlament wächst und die
Bürger unseres Staates ein tragfähigeres Verhältnis zu dem von ihnen
gewählten Parlament gewinnen."
Für die innere Verbindung zwischen Bürgern und Parlament und gegen Ochlophobie oder Pöbelfurcht wirbt hier Hermann Ehlers, in seiner Antrittsrede als Bundestagspräsident am 6. Oktober 1953. Guter Mann!
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