Samstag, 17. August 2013

Parlamentarismus – und ein Präsident lernt dazu

Am 7.9.1999 gab’s im Bundestag eine besondere Feierstunde: 50 Jahre Grundgesetz. Dabei wurden die Bürger als demokratische Mitspieler oder gar als politische Impulsgeber nur ganz selten genannt, nur von Bündnis-Grünen und PDS. Dafür fiel umso häufiger der Begriff des Parlamentarismus. Was ist das? Unsere Sprache kennzeichnet mit "ismen" regelmäßig die Übermaß- oder Übertreibungsform wie etwa den "Fundamentalismus" oder Weltanschauungen wie Sozialismus oder Kapitalismus. Die "ismen" werden üblicherweise an Gruppen oder Überzeugungen geheftet, die selbstgewiss, verhärtet und reformfeindlich verharren. Haben wir mit dem eingeschliffenen Parlamentarismus eine parlamentaristische, vielleicht sogar repräsentativistische Demokratie?

Hinweis: Diese Feierstunde ist leider nicht im ansonsten sehr ausführlichen Internet-Angebot des Bundestages dokumentiert; man kann bzw. konnte sie allerdings kostenlos als Druckschrift anfordern. Das habe ich getan, die Denkschrift zur Arbeitserleichterung eingescannt und auf meiner Internetseite abgelegt. Warnung: Meine Randnotizen müssen Sie dabei mit hinnehmen.

Zum ersten Abschmecken zwei Zitate aus der Lehre - mit Kernelementen der Parlamentarismus-Philosophie:
"Ganz allgemein stellt sich die Frage, ob das zunehmende Komplizierterwerden der politischen Probleme und damit auch der politischen Entscheidungen nicht überhaupt weitgehend den intellektuellen Rahmen sprengt, der Voraussetzung echter politischer Entscheidungen durch das Staatsvolk ist."

Die Hervorhebungen stammen vom zitierten Autor. Meine Anmerkung: Also in klareren Worten, das Staatsvolk ist zu blöd. Dann müssen die Schweizer einer weit überlegenen Spezies angehören: Mit direkter Demokratie auch zu Steuerfragen haben sie sich für eine Arbeitslosigkeitsrate von unter 4 % entschieden. Und entgegen allen Gerüchten besteht die moderne Schweiz nicht lediglich aus einer großen Alm mit einer Bank, ein paar Alphörnern und vielen blauen Kühen. Es lohnt hier auch daran zu erinnern: Die Bede - die Steuerbitte der Fürsten an die Stände - ist eine der wesentlichen Wurzeln der mitteleuropäischen Demokratie. Die, die die Zeche zahlen, sollten an der Bestellung mitwirken. Zumeist senkt dieser gute Brauch die Kosten. Ich räume ein, der Gedanke ist heute etwas verschüttet. Eine Anmerkung: Im Zuge des Partei-Spendenskandals hätte man die - auch offizielle - Wiedereinführung der Notbede erwägen können; Altbundeskanzler Kohl hat mit seiner Wiedergutmachungs-Spendenkampagne des Jahres 2000 bereits Zeichen gesetzt. Nun aber das 2. Zitat:
"Verfassungstheoretisch handelt es sich (bei der vom Autor postulierten rechtlichen Freistellung des Parlaments von der Bindung an den unmittelbaren Volkswillen) um (...) eine hochmoderne Antwort auf das oben schon angesprochene Problem, dass die heutigen politischen Probleme sich infolge ihrer zunehmenden Komplexität der Beurteilung durch den einfachen Aktivbürger immer mehr entziehen und dass eine Politik, die in 50 oder 100 Jahren auch vor dem Auge der dann lebenden Generation noch Bestand haben soll, heute u.U. auf sehr wenig Verständnis stößt und daher ggfs. auch gegen, zumindest aber ohne die Zustimmung der heute lebenden Menschen durchgesetzt werden muss."

Wer ist's, der da die Politiker als weise Seher und kühne Vollstrecker würdigt, hart gegen sich und andere? Die Zitate stammen aus dem mit Abstand angesehensten Kommentar zum Grundgesetz, dem Großkommentar Maunz/Dürig. Bearbeiter der zitierten Passagen unter den Randnummern II 41 und II 64 zu Art. 20 des Grundgesetzes ist Roman Herzog, ehemals Präsident des Bundesverfassungsgerichts, später deutscher Bundespräsident. Der dann allerdings nach fünf Jahren Praxis als erster Bürger wesentlich mehr Bedarf an fühlbarer Demokratie sah, dazu weiter unten.
Und noch ein programmatisches Zitat:
"Politisches Handeln darf nicht bestimmt sein von der kurzfristigen Befriedigung von Einzel- oder Gruppeninteressen, deren Summe nicht schon das Gemeinwohl ergibt, sondern muss geleitet sein von der dauerhaften Gesamtverantwortung für unser Volk. Nur so kann es auch den Belangen von nicht organisierten Gruppen und der zukünftigen Generationen gerecht werden. Eine verantwortungsvolle Politik muss notwendige Entscheidungen auch gegen Widerstände in der öffentlichen Meinung zu treffen bereit sein."

Diese Passage weist einige Anklänge zu den vorhergehenden Zitaten auf; sie stammt aus dem Grundsatzprogramm "Freiheit und Verantwortung", beschlossen auf dem Parteitag der CDU am 23.2.1994 in Hamburg (Zf. 109). Konkret aufgeschrieben hat's hier einmal die CDU, aber das daraus sprechende obrigkeitliche, manchmal auch fürsorglich eingekleidete Denken ist in praktisch allen Parteien anzutreffen. Es sagt: Wir kennen die notwendigen Entscheidungen naturgemäß besser als die Betroffenen selbst. Es drückt den noch heute verhaltenen Schrecken aus über die erst vor historisch kurzer Zeit (von der Arbeiterbewegung) durchgesetzte Erstreckung des aktiven Wahlrechtes auf alle Teile der Bevölkerung. Ein Schrecken, der die Demokratie weiterhin als sorgsam zu dosierendes Wagnis beargwöhnt - und Bürger zu Mündeln macht statt zu Vertretenen.
Kommt es auf den Punkt, so trauen selbst die Grünen ihrem theoretischen Mut nicht und reagieren in hergebrachter Weise Regenten-Rollen-konform. Als etwa Verheugen im September 2000 vorsichtig auf das demokratische Defizit bei der Gestaltung der Europäischen Union hingewiesen hatte, kommentierte der damals amtierende Außenminister Fischer:
"Das ist nicht die Position der Bundesregierung. Allein die Vorstellung, dass wir eine Volksabstimmung über den Beitritt Polens zur EU abhalten, das muss man sich mal zu Ende bedenken."

Herzog war am Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident und erster Bürger nachdenklicher und kämpferischer geworden: Im Rahmen des Staatsaktes zum fünfzigjährigen Bestehen BundesrepublikDeutschland am 24.5.1999 hatte er den Blick gegenüber der oben zitierten Kommentierung im Maunz/Dürig mit frischem Mut erweitert:
"Mit Reden und Dozieren ist es dabei (Anknüpfungspunkt: bei der klugen und phantasievollen Ausfüllung des Begriffs Freiheit) nicht getan. Auch die Demokratie muss, wenn ihr Wert vermittelt werden soll, spürbar sein, ja wieder stärker spürbar werden. Ich kann mir beispielsweise durchaus mehr direkten Einfluss der Bürger vorstellen, etwa das Kumulieren und Panaschieren der Wählerstimmen auch bei Bundes- und Landtagswahlen (!), die Ausweitung der Direktwahl von Bürgermeistern, die Verstärkung von Bürgerbegehren, zumindest (!) auf kommunaler Ebene. Gerade auf der Ebene der Nachbarschaften ist der Bürger ja in besonderem Maße zur Übernahme von Verantwortung bereit. Dort können sogar "Frühwarnsysteme" für gesellschaftliche Entwicklungen entstehen, die ein nur auf die Stimmen von Bürokratien und Verbänden hörender Staat (!) leicht übersieht."

Ihm ist es offenbar nach seiner Erfahrung im höchsten Staatsamt sehr daran gelegen, die Schnittstelle zwischen Politik und Bürger durchgängiger und lebhafter zu gestalten. Der Begriff "Frühwarnsystem" mag aus Sicht des Bürgers hier etwas schief und als Nachhall eines sehr obrigkeitlichen Staatsverständnisses klingen; der Bürger versteht sich ja ungern als latente Gefahr. Aber die Wortwahl macht doch das Interesse an direkter, unvermittelter Information und Kommunikation ganz klar.

Einen zum Jubiläum des Bundestages nachdenklich stimmenden Aspekt führte am 7.9.1999 die Gastrednerin ein, Dr. Najma Heptulla, Präsidentin der Rates der Interparlamentarischen Union und Vizepräsidentin des Indischen Oberhauses. Sie forderte die Demokratisierung der internationalen Organisationen. Allen voran der Vereinten Nationen, die mehr werden müssten als eine bloße Veranstaltung von Regierungen. Schäuble winkte gleich ab: Er glaube nicht, dass "wir die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ebenen staatlicher oder öffentlich-rechtlicher Körperschaften in erster Linie durch Parlamente organisieren können." Das ginge in Deutschland wie in Europa nicht und weltweit wohl erst recht nicht. Dies führt aber gleich auf einen anderen, noch wesentlich kritischeren Punkt: Im Rahmen von Internationalisierung und Globalisierung gehen immer mehr Entscheidungsfelder an überstaatliche und zwischenstaatliche Instanzen und zunehmend auch an den nicht-öffentlichen Bereich "verloren". Und zwar ohne dass dort mindestens die gleiche demokratische Teilhabe gewährleistet würde wie in den nationalen Parlamenten. In der Konsequenz müsste das Parlament wegen ausgehender Zuständigkeit und Kompetenz eigentlich kontinuierlich schrumpfen - zumal die Bürger ja auch die neu hinzutretenden übernationalen Institutionen brav finanzieren.

Und ein letztes Mal zurück zum 7.9.1999, zu 50 Jahren Grundgesetz und nun zur Politikverdrossenheit. Schäuble glaubt nicht, dass das Interesse der Bürger am Parlament abnähme. In der Feierstunde präsentierte er für diese frohe These ein beinhartes Indiz. Der Fernsehkanal "Phoenix" habe seine höchsten Einschaltquoten gerade bei Debatten des Bundestages! Ich muss gestehen: Ich weiß nicht, womit der Bundestag in diesem Programm konkurriert. Interessant ist Schäubles aufatmende Folgerung: "Wir brauchen nicht zu resignieren." Das jetzt ist mehrdeutig und könnte heißen:

  1. Wir müssen nicht zurücktreten - oder - 
  2. wir müssen das Volk noch nicht ganz abschreiben - oder - 
  3. wir können uns weiter beherzt gegen alle Reformen stemmen.

Was genau kann er meinen bzw. was verspricht er für den Fall, dass der Bundestag bei Phoenix mal nicht mehr den Quotenbringer macht?

Und noch'n Zitat, mit Hervorhebungen von mir:
"Wir sind uns alle der tragischen Folgen bewußt, die daraus entstanden sind, dass vor ... Jahren das deutsche Volk die Aufgabe und die Verpflichtung des deutschen Parlaments nicht verstanden hat. Erst die unheilvolle und unbegründete Distanzierung zwischen Parlament und Volk, die trotz vieler ehrlicher Bemühungen damals nicht hinreichend überwunden werden konnte, hat es gewissenlosen Demagogen möglich gemacht, die Herrschaft in Deutschland an sich zu bringen und unser ganzes Volk in ein namenloses Unglück zu stürzen. Es ist an uns allen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, durch die Darstellung unseres Wollens und durch unsere Arbeit daran mitzuwirken, dass heute eine andere innere Verbindung zwischen Volk und Parlament wächst und die Bürger unseres Staates ein tragfähigeres Verhältnis zu dem von ihnen gewählten Parlament gewinnen."


Für die innere Verbindung zwischen Bürgern und Parlament und gegen Ochlophobie oder Pöbelfurcht wirbt hier Hermann Ehlers, in seiner Antrittsrede als Bundestagspräsident am 6. Oktober 1953. Guter Mann!

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