Freitag, 9. August 2013

Marco Polos Insider-Tipps für Tippler / Zwischenbilanz


Ein Ziel des Projekts „freie Kandidatur“ ist: Viel mehr Bürger/innen zu eigenen Bewerbungen animieren, jedenfalls für dieses Instrument interessieren – mit Tipps und Erfahrungen aus der real existierenden Demokratie. Jeder Wahlkreis sollte für jede Wahlperiode zumindest einen Partei- und Lobby-freien Kandidaten hervorbringen. Damit man überall etwas auswahlfähigen Unterschied spüren kann - als thematische und persönliche Alternativen. Statt mehr desselben. Im Rheinisch-Bergischen Kreis hat die Kraft diesmal nur für einen gereicht, im benachbarten Wahlkreis 101 = Leverkusen + Köln-Mühlheim nicht einmal für einen. Da ist mehr drin.

Marco Polo hat man seine Reiseberichte nicht recht abgenommen. Er habe nur vom Hörensagen berichtet, vom Klatsch und Tratsch in den Karawansereien. Und das Wichtigste sowieso nicht gewusst: Dass es die große chinesische Mauer gibt, die man sogar aus dem Weltall ausmachen könne. Nur: Zu Marco Polos Zeit gab es erst einige fragmentierte Wälle und Befestigungen wie anderswo auch, aber nichts in einer auffälligen Form und Ausdehnung, auch nicht für Kosmo-, Astro- oder Taikonauten. Ich dagegen kann von einer Mauer sprechen – aber dazu später.

Hier ganz allgemeine Tipps, wie man das Quorum von 200 Unterstützungsunterschriften erreicht. Vorausgeschickt: Es braucht je nach schon vorhandener Vernetzung einige Kraft und kann auch ein paar Pfund auf der Waage kosten - bei mir waren es ca. 2 Kilo. Aber das Ergebnis zuerst: Die "Zweihundert" ist auch für Untrainierte überhaupt keine unüberwindliche Hürde!

Zeitbudget: Kalkulieren Sie je nach Bekanntheitsgrad nicht unter vier Monaten Gesamtrahmen. Ich hätte theoretisch acht Monate zur Verfügung gehabt, habe aber bewusst eher nahe an die Wahl geplant – damit es überhaupt einen halbwegs erklärlichen Hintergrund für meine Tippeltour gibt. Genau das hätte auch in’s Auge gehen können, denn ich hatte mir den Auftrag in meinem jugendlichen Leichtsinn deutlich leichter vorgestellt. Zu den täglichen Jagdzeiten: An Tagen außerhalb der Wochenenden machen nach meiner Erfahrung nur die späten Nachmittage und frühen Abende Sinn. Sonst bleiben die Türen häufig zu – oder es sind jedenfalls keine „Großen und Starken“ präsent. Vergessen Sie auch einfache Postwurfsendungen wie Handzettel und Visitenkarten in die Briefkästen (wenn nicht flächendeckend über eine Anzeigenzeitung o.ä, siehe unten)! Effekt erzielt nach aller Erfahrung nur, das Weiße im Auge der Wähler zu sehen - und vice versa.

Presse: Den fortgeschrittenen Masochisten zeichnet aus, ohne irgendeine Ankündigung oder Eintrittskarte loszulegen; für die ersten Tage hatte ich's so versucht und sie waren in der Ausbeute absolut jämmerlich. Ein, zwei Artikel in den Tageszeitungen, am besten mit Lichtbild, die wirken dagegen Wunder. Aber der Effekt verblasst auch wieder, man muss nach Möglichkeit mehrfach nachlegen. In meinem Fall war es ein kleines Wahlprogramm und ein Ausdruck eines Blanko-Unterstützungsvordrucks, verteilt durch eine örtliche Anzeigenzeitung. Hat den grandiosen Vorteil gegenüber Tageszeitungen: Wird in jeden Briefkasten gehämmert, der sich nicht wehrt, hat eine längere Latenzzeit, des Ergebnis liegt dann bisweilen schon zum Einsammeln bereit (manche Bürger haben auch eigene Kosten nicht gescheut und den fertigen Vordruck per Post geschickt). Eine solche Aktion kostet dann aber auch ein paar Taler, in meinem Fall für eine Auflage von 9.000 Exemplaren incl. Druck ca. 1.200€ für die Heimatstadt. Für den ganzen Wahlkreis wären es ca. 9.000€ gewesen. Das wollte ich Kindern und Enkeln nicht antun.

Sonstige Medien: Habe mich an die privaten örtlichen Rundfunksender gewandt und auch an den WDR. In einem sind sie sehr gleich: Sie antworten einheitlich gar nicht. Außerdem habe ich überörtliche Zeitungen angemailt, mit der Botschaft: Freie Kandidaturen können etwas frischen Wind in die Wahl bringen. Wenig bis keine Reaktion. Erwarten Sie auch keine menschlichen Schwachheiten wie etwa kurze Absagen. Bauen Sie weiter an Ihrem dicken Fell. Siehe im Übrigen meinen Post unter dem Titel „Drachenhaut“. Kleiner Lichtblick: Die taz hat tatsächlich gerade interessiert zurückgefragt und auch der SPIEGEL, und zwar mit der Aufforderung, ein Kandidatenprofil anzulegen, das über mehrere Medien, u.a. auch über die rührige Plattform abgeordnetenwatch.de an die interessierten Wähler herangeführt werden soll.

Programmatik: Das ist so eine Sache. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass man klar ankündigen muss, wofür man steht – und die Leute fragen auch direkt danach. Jetzt könnte man das bei enigre Systemintelligenz sehr stromlinienförmig gestalten, ohne Aufreger, dabei leicht Volkstribunen-haft getönt. Aber das wäre nicht authentisch. Deswegen habe ich in meinem Programm auch ein Thema drin gelassen, das sich als extrem kontrovers zeigte: Eine liberalere Handhabung bei doppelten Staatsangehörigkeiten. Hätte ich den Punkt nicht drin gehabt, ich hätte leicht 20% mehr Unterschriften eingesammelt, anders gewendet: ich wäre mit 80% der Zeit ausgekommen. Aber eine solche Strategie hätte ich als massiv populistisch angesehen. Und im Grunde kann man die freiere Handhabung auch sehr gut begründen. Es braucht halt nur mehr Zeit und Geduld.

Geduld: Die braucht man wirklich satt. Als Bürgermeisterbewerber hatte ich 2009 recht wenig Mühe, direkt an der Türe Unterschriften einzuwerben, Haus nach Haus. Das Ziel ist handfest, die Mitspieler sind bekannt und in den letzten Jahren waren Unabhängige auf der kommunalen Ebene auch immer besser im Rennen (das typische Muster ist allerdings: man kann ein gutes Maß bereits mitgebrachte Bekanntheit auch dort sehr gut gebrauchen, z.B. aus einer früheren parteipolitischen oder lokalpolitischen Initiative; dann hilft meist auch noch ein ausgeprägter dä!“-Effekt mit). Bundespolitik und der demokratische Mehrwert einen freien Kandidatur dagegen: Das wird nicht organisierten Bürgern einfach nicht zugetraut: „Ist nichts für Kinder und Halbstarke!“ So habe ich höchstens 10% der Schriften direkt im Vorbeigehen eingeholt; die allermeisten wollten sich erstmal eingehend im Internet informieren – oder sogar durch telefonische Nachfrage bei Gewährsleuten aus meinem Dorf. Mancher bat auch, nach ein paar Tagen noch mal wieder zu kommen. Habe ich tatsächlich in zwei Fällen gemacht – aber ohne unmittelbares Ergebnis. Dann habe ich’s dran gegeben und gebeten, das Formular nach gewonnener Überzeugung einfach in unseren Briefkasten einzufüllen. Und das klappte in den Anfangstagen höchstens bei 10% der direkt Angesprochenen, der Rest war schlicht verloren. Setzt dann zunächst eher wenige Glückhormone frei. Aber bei nachhaltiger Motivation kommen auch Schnecken wieder fröhlich voran.

Eigene elektronische Öffentlichkeit: Ich habe meine Kandidatur auf meiner Homepage www.vo2s.de herausgehängt, aber da ist man natürlich lost in space: Meine Seite datiert zwar schon aus der zweiten Hälfte der Neunziger, enthält auch Lesestoff und sonstige Info für mindestens eine Woche, z.B. einen flächendeckenden Nachweis aller parlamentarischen Dokumente zu Auslandseinsätzen = absolutes Alleinstellungsmerkmal. Aber sie hat halt den Charme einer digitalen favella, einer Internet-Wellblechsiedlung („Form ist nicht alles!“) und im nationalen Ranking liegt sie etwa an zehnmillionster Stelle. Zusätzlich habe ich 2009 diesen Wahlblog zur Bürgermeisterwahl aufgelegt, den ich nun zur Bundestagswahl fortschreibe. Auch die Wirkung eines solchen Blog ist moderat. Die Zahl der Aufrufe (kann man als Blog-Autor statistisch abrufen) ist zwar signifikant gestiegen = seit Beginn der Kandidatur um den Faktor vier, aber man sieht dabei in der Regel nur das mechanische Echo des eigenen Postens. Poste ich viel und kurz hintereinander, werden halt die bots (automatisierte Aufrufprogramme bestimmter provider) wild und greifen zyklisch zu. Man kann das auch gut an der Länder-Auflösung sehen: Eine große, monatsweise auch schon mal die größte Zahl der Anfragen stammen nicht aus dem Bergischen Land, sondern aus Russland oder den USA, möglicherweise auch von den dortigen Diensten (allerdings gehe ich eigentlich davon aus, dass deren Recherchen gar nicht oberhalb der Wasseroberfläche erscheinen). Ganz interessant ist auch eine Auswertung nach den verweisenden / verlinkenden Seiten: Einige Medien hatten bei der Berichterstattung meinen blog bzw. meine URL genannt: Das führte aber nach der Statistik nur zu sehr wenigen Aufrufen und der Effekt ließ auch immer sehr schnell nach. Also: Elektronik kann etwas zur Publizität beitragen – aber es führt keinesfalls dazu, dass man auf gleicher Augenhöhe wie die Partei- oder Lobby-gestützte, in jedem Fall Ressourcen-starke Konkurrenz antreten kann.

Freunde: Viel effizienter als das Selbst-Anpreisen läuft das Einwerben von Unterstützerunterschriften, wenn Freunde mithelfen. Ganz offenbar schafft es Vertrauen, wenn ein Dritter, den die Umworbenen bereits kennen, als eine Art ehrlicher Makler auftritt und für die gute Sache wirbt. Ich hatte zum Glück zwei solche Engel, die in Odenthal und Blecher einen am Ende auch entscheidenden Teil der Stimmen eingeworben hatten – ihre Stimmen abgezogen, wäre ich unter den magischen Zweihundert geblieben. Am meisten verblüfft hat mich ihre Reaktion, wenn ich über meine mühsamen „Erfolge“ sprach: „Wieso, ist doch gar kein Problem, lief in ganz wenigen Tagen!“ Irgendwas fehlt mir offenbar noch zu einer Karriere als Volkstribun ;-)


Summa summarum

In den ersten Wochen steht man tatsächlich wie vor einer Mauer. Dann professionalisiert man sich langsam, wird ein wenig öffentlicher, nimmt einige Rückschläge hin und erfährt wieder Bestätigung und auch Hilfe, und am Ende klappt’s dann doch. Nur Mut – eine freie Kandidatur ist wirklich machbar und sie macht viel mehr Spaß, als man anfangs denkt.

Und ich bin allen sehr verbunden, die mitgeholfen haben, nicht zuletzt meiner Frau, und ich danke allen Unterstützern für das Vertrauen in mich und in dieses anfangs sehr irritierende Projekt. Aber es hat jetzt schon etwas genutzt - es hat bereits zur öffentlichen Debatte beigetragen - und wird sicher noch mehr nachhaltigen Nutzen stiften.

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