Mittwoch, 17. Dezember 2014

Herschels Haufen: Weihnachtsbaum vs. Sektglas



Wer ein wenig auf Naturwissenschaften und speziell auf Astronomie oder Astrophysik hält, der kommt irgendwann zum Jahresende am cristmas tree cluster aka Weihnachtsbaum(stern)haufen nicht mehr vorbei – ein wunderschönes Motiv für Weihnachtskarten, wie etwa die des Bundesministeriums für Forschung und Technologie im Jahre 2014. Es kann ja auch schon fast besinnlich stimmen, dass der Schöpfer so ein stimmiges Symbol an den Himmel gehängt hat – mögen auch Wissenschaft und Forschung das herkömmliche Weihnachts- oder auch das Schöpfungs-Narrativ ziemlich gerupft aussehen lassen.

Der deutsch-englische Astronom Wilhelm/William Herschel hatte den Sternhaufen bei Durchmusterung des Himmels auf Sternansammlungen und Nebel am 18. Januar 1784 entdeckt und klassifiziert. Aber was hat es denn mit Herschels Haufen wirklich auf sich? Zunächst einmal: Auf den Bildern, die nach den Regeln der Wissenschaft ausgerichtet sind, ist der Christbaum nicht mal leicht zu identifizieren. Nehmen wir z.B. das Bild der ESO-Südsternwarte, aufgenommen mit einem Teleskop am Standort La Silla in 2.400 Metern über See in der Atacama-Wüste an der per-ariden Westflanke der Anden, damit in einer der trockensten Regionen dieser Welt. Diese Aufnahme war Grundlage der schönen BMBF-Karte:
Das Bild ist – wie typischerweise die ESO-Angebote im Internet und entsprechend astronomischer Konvention – ge-nordet, will sagen, unser irdisches Norden ist oben, der Süden ist unten. Oder: Wir hier auf der Nordhalbkugel würden die Sternformation durch einen starken Feldstecher genau in der Ausrichtung der Karte sehen, wenn sie des Nachts genau im Süden steht. Für den Selbstversuch: Das wird um Weihnachten ziemlich genau um 2 Uhr nachts der Fall sein, dazu unten mehr. 

Wo aber ist bloß der Weihnachtsbaum? Vielleicht der kleine dunkle Kegel am unteren Bildrand? Nein – denn das ist ein Dunkelnebel, der das Licht absorbiert, hier der so genannte Konusnebel oder cone nebula. Manchmal wird er ein wenig irreführend als übergeordnet beschrieben (etwa: „Weihnachtsbaumhaufen im Konusnebel“). Tatsächlich sind unter der amtlichen Hausnummer NGC 2264 des New General Catalogue Cluster und Konusnebel nach noch immer herrschender astronomischer Meinung gemeinsam untergebracht, sozusagen in Kohabitation. Gut, jetzt war ich ein wenig spitzfindig oder, wie man bei uns im Bergischen sagt, drießhüeßchensjenau. Aber wir sind hier dem Himmel ja auch etwas näher.

Der leichtere Weg zum Tannenbaum: die Karte um 180 Grad drehen:

Und dann die hellen Sterne wie in den altmodischen Zahlenpunkt-Bilderrätseln mit Linien verbinden, etwa so:

Oder – invers dargestellt – so:

Oder: Den diffusen Gasnebel insgesamt als Körper des Tannenbaums interpretieren und die hell leuchtenden Sterne als Kerzenlichter darin. Mag sein, dass ihn der gute alte Herschel sogar genau in dieser Ausrichtung beobachtet hat. Denn die damaligen Newton-Teleskope, von denen Herschel eine selbst erfundene Variante benutzte und zu immer größeren Dimensionen entwickelte, stellten typischerweise die Beobachtungsobjekte durch ihre spezielle Optik auf den Kopf – und vertauschten auch die Seiten. Tatsächlich hat Herschel die genannte Konstellation ein zweites Mal, im Jahre 1785, auch genau zu Weihnachten beobachtet und dabei auch den umgebenden Gasnebel entdeckt, der – auf den Aufnahmen gut sichtbar – von eingelagerten, dort entstandenen jungen Sternen zum hellen Leuchten angeregt wird.

Ein netter Gedanke – aber so war es nicht ganz. Der Name „christmas tree clusterstammt erst aus dem 20. Jahrhundert und wird dem US-amerikanischen Astronomen und Schriftsteller Leland S. Copeland zugeschrieben. Zu Herschels Zeiten war in bürgerlichen Schichten Englands der Weihnachtsbaum auch noch gar keine wiedererkennbare Chiffre oder Wortbildmarke - erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Weihnachtsbaum über die deutsch-englische Herrscherfamilie kulturell importiert. Immerhin könnte der aus Deutschland stammende Herschel eine solche Tradition schon gekannt haben. Aber nein, wie gesagt, das emotionale Bild kam erst zu unserer Zeit zum Sternhaufen; Herschel hatte ihm in seinem später von seiner ebenfalls sehr bemerkenswerten Schwester Caroline Lucretia Herschel vervollständigten Katalog noch den wenig romantischen Namen H VIII.5 zugedacht.

Der Selbstversuch

Wollen Sie den Weihnachtsbaum nun mal selbst am Himmel sehen? Er stünde, ich hatte es eingangs gesagt, zu Weihnachten des Nachts gegen 2 Uhr zur Besichtigung bereit. Eigentlich auch schon früher bei klarer Sicht, aber dann gegenüber dem Bild ganz oben noch leicht geneigt. Man findet ihn östlich – oder linkerhand – von dem beeindruckenden Wintersternbild Orion („Jäger“) mit den markanten drei Gürtelsternen

und zwar ungefähr in eineinhalbfacher Verlängerung der Strecke zwischen den beiden Schultersternen Beteigeuze und Bellatrix nach links (im folgenden Bild ist dort nur der Konusnebel / cone nebula bezeichnet:

Man kann sich auch an den drei am Himmel sehr prominenten Sternen Beteigeuze, Prokyon (im „kleinen Hund“) und Sirius orientieren und findet den Sternhaufen dann etwas oberhalb der Mitte der Verbildungslinie Beteigeuze / Prokyon im recht unscheinbaren Sternbild Einhorn bzw. Monoceros, Abkürzung "Mon", in der folgenden Karte mit der etwas moderneren amtlichen Hausnummer des New General Catalogue NGC 2264, wo Cluster und Konusnebel gemeinsam untergebracht sind.

Wenn Sie ein eigenes kleines Teleskop haben, dann wird dieses zumeist das reale Bild – wie zur Zeit Herschels – auf den Kopf stellen und Sie sehen – gute Bedingungen vorausgesetzt – den Weihnachtsbaum.

Wenn Sie den Feldstecher nehmen, dann werden Sie das Bild in der ganz oben dargestellten Ausrichtung sehen. Der Konus-Nebel, wenn Sie ihn denn sehen würden, wäre unten, aber das ist in der schlechten Auflösung eines Feldstechers leider nicht möglich. 

Und durch den Feldstecher gesehen erinnert das Bild eigentlich doch eher an ein Sektglas. Was ja auch gut in die Jahreszeit passt:

Prosit - und das hat ja vielleicht auch Herschel gesagt!


P.S. für Genießer noch ein paar sehr sehens- und lesenswerte Beschreibungen des christmas tree cluster aka Weihnachtsbaumsternhaufen bzw. des Sternbildes Einhorn mit diversen astronomischen Details, siehe die links unten. Etwa:

Kinderstuben und Sternenstaub

Wir blicken in eine Kinderstube junger Sterne, die zu den heißesten und schwersten Sonnen unser gesamten Milchstraße gehören - der größte von ihnen um den Faktor 10.000 heller und zwanzigfach schwerer als unsere Sonne, dafür aber mit einer Lebensdauer in der Größenordnung von nur einigen Millionen Jahren - im Gegensatz zu mehreren Milliarden Jahren der Sonne. Die Zeit dieser Sonnen wird vermutlich nicht für das Entstehen von Leben ausreichen und wird mit jeweils einem gewaltigen Paukenschlag - einer Supernova - enden. Und wenn auch die jetzt sichtbare Sternengeneration wohl selbst kein Leben ermöglichen wird, so ist diese Phase und insbesondere die furiose finale Explosion die Voraussetzung dafür, dass genau darin dann alle diejenigen chemischen Elemente zusammengebacken werden, aus denen auch wir, aus denen unsere Teleskope und die ganze Erde bestehen. Wir blicken also nicht nur zurück in die ca. 2.600 Jahre, die das Licht unseres christmas tree cluster auf dem Weg zu uns gebraucht hat.

Wir blicken auch zurück in unsere eigene sehr ferne Vergangenheit vor Entstehung des Sonnensystems vor ca. 5 Milliarden Jahren, als in unserer galaktischen Nah-Region noch ein viel dynamischeres kosmisches Mikroklima herrschte. Und wenn wir auf uns selbst blicken, dann sehen wir - erstaunlich gut organisierten Sternenstaub. Wir können heute anhand der Lichtspektren von nahen Sternen einige Kandidaten erkennen, die nach Alter, chemischer Zusammensetzung und ihrer Bahn um das galaktische Zentrum mit großer Wahrscheinlichkeit aus der gleichen Kinderstube sprich Materiewolke wie die Sonne entstanden sind - etwa den heute ca. 100 Lichtjahre entfernten Stern mit dem amtlichen Kennzeichen HD 162826 (Forschungsbericht aus dem Mai 2014 siehe hier). Nicht auszuschließen, dass diese Sonnen-Schwester ebenfalls terrestrische Planeten in grundsätzlich lebensfreundlichen Bahnradien besitzt.

Astronomen und Metronomen

Es mag nun sein, dass Himmelserscheinungen wie eine halbwegs sonnennahe, auch am Tage sichtbare Supernova Anlass für die Evolution von Religionen gegeben hat. Astronomen fungierten ja bereits frühzeitig als Metronomen bzw. als Taktgeber der Zivilisationen, z.B. bei einem mehr als 10.000 Jahren alten Mond-Kalender im schottischen Aberdeenshire. Die Entwicklung der Astronomie ist eng gekoppelt an die Definition von Herrschaftswissen zur Steuerung von Gemeinschaften, etwa im Islam zur möglichst unangreifbaren Bestimmung des dem Mondzyklus folgenden Ramadan. Auch unsere heutige Astronomie ist von den Beobachtungen und Begriffen der islamischen Naturforscher nachhaltig geprägt, siehe etwa oben die arabischen Namen der Hauptsterne des Orion und die vielen noch heute gebräuchlichen Fachbegriffe arabischen Ursprungs wie Azimut und Zenit. Die Magie astronomischer Symbolik finden wir heute in Flaggen wie in den Hoheitsabzeichen, etwa auch von Militärflugzeugen. Das Militärische und das Zivile konvergieren auch bei der Erforschung und Nutzung des Weltraumes: Das GPS-System kann uns in dunklen, verregneten Nächten sicher nach Hause führen; aber es kann auch einen Marschflugkörper, eine Drohne oder eine smart bomb zentimetergenau in unser Schlafzimmer lenken.

Exkurs: An dieser Stelle bitte eine kleine anerkennende Denkminute für den entscheidenden Beitrag der arabischen Wissenschaftler zum Denken, Wissen und Können des heutigen Abendlandes; wir verdanken diesen islamischen Pionieren der Forschung schon den dort erprobten Dreiklang von Hypothese, Experiment und Beweis, die Basis exakter Wissenschaften, aber auch unser grundlegendes kulturelles Gedächtnis: die Bewahrung und Weiterentwicklung klassischen griechischen Denkens. Darum: Wer meint, der Islam gehöre nicht zu Deutschland oder nicht zu Europa oder wer meint, es wäre patriotisch und europäisch, sich gegen eine Islamisierung des Abendlandes zu wenden, der denkt in sehr engen zeitlichen, kulturellen und räumlichen Grenzen, der denkt sehr exklusiv. Das für mich besonders Paradoxe ist: Im Grunde hat die orientalische Grundlage exakter Wissenschaften, gepaart mit einer guten Dosis katholischer bzw. manichäischer Selbstgerechtigkeit und protestantischem Erwerbsstreben die westliche technokratische Explosion und die zumindest zeitweilige Weltherrschaft erst möglich gemacht - und ein fortwirkendes Modell von Wachstum, Entgrenzung und Unmäßigkeit begründet, das heute die Schöpfung und den Frieden messbar bedroht. Die Flüchtlingsbewegungen, die vielen Bürgern heute solche Angst bereiten: Man kann sie leicht auf eine unbekümmerte open-doors-Politik des Westens und auf seinen fast kindlichen, Stabilbaukasten-haften Glauben an den dauerhaften globalen Nutzen seiner zivilisatorischen Errungenschaften oder seiner militärischen Eingriffe bzw. Strafexpeditionen zurückführen, auf die völlig fehlende Bereitschaft, militärische Projekte wie Irak, Libyen, Somalia, Mali, Südsudan oder Afghanistan nüchtern und demokratisch wirksam nach Nutzen und Lasten, nach Gewinnern und Opfern zu bilanzieren. Man kann die modernen Völkerwanderungen auf eine vom Westen verursachte politische, kulturelle und ökonomische Destabilisierung kritischer Regionen zurückführen, ergänzend auf die klimatischen Wirkungen seiner extensiven Wirtschaftsform, die in den ärmsten Ländern dieser Welt besonders einschneidend und nicht korrigierbar greifen. Keines dieser Erklärungsmuster gibt uns Anlass zu Selbstgerechtigkeit und Xenophobie. Und gerade der in einer ariden Region entwickelte Islam könnte mit seinen Konzepten von nachhaltiger, sozialer Gebundenheit des Eigentums und seiner Definition von gegenseitigen Menschenpflichten hilfreiche Hinweise geben. Wenn man ihm das nur zutrauen wollte. Exkurs Ende.

Weihnachten: Datum und Farben

Hatte nun auch das Datum unseres heutigen Weihnachten mit astronomischen Beobachtungen zu Zeiten Christi und auch mit der Christusgeschichte zu tun? Fehlanzeige: Da existiert höchstwahrscheinlich ebenso wenig ein ursächlicher Zusammenhang, wie es einen biblischen Ursprung des Rot im Mantel des Weihnachtsmanns gibt. Das hat Coca Cola zwar nicht erfunden, jedenfalls aber sehr wirksam vermarktet. Das Datum unserer Weihnachtsfeiertage hatte für die frühen Christen noch keinerlei Bedeutung; ihnen war aus nachvollziehbaren gruppendynamischen Motiven nur das Sterbedatum der Märtyrer wichtig (und es gab ja auch noch kein das Geschäft und den Verbrauch emsig befruchtendes Weihnachtsgeld ;-) Also: Als Geburtsdatum Christi ist der 24. Dezember gleich wahrscheinlich wie jeder andere unter den 365 Tagen des Jahres. Auch der Tag der Geschenke für die Kinder (!!!) war traditionell in den meisten Zeiten und Regionen anders festgelegt, nämlich typischerweise auf den Nikolaustag oder den 28. Dezember, den Tag der unschuldigen Kinder oder der Tag der Heiligen Drei Könige am 6. Januar.

Die zeitliche Definition des Weihnachtsfestes beruht wohl am ehesten auf vor-christlichen Parallelen bzw. auf einer sehr cleveren Terminorganisation und -besetzung durch die frühen Missionare. Dies alles mag aber durchaus wiederum durch die Nähe der Wintersonnenwende auch astronomisch beflügelt worden sein; die beiden Sonnenwenden hatte man offenbar schon seit mindestens 1.000 Jahre vor Christi Geburt in der Region nördlich der Alpen als hoch relevant angesehen, siehe etwa die Interpretation der Himmelsscheibe von Nebra. Deren Hersteller hatten sich übrigens - siehe die auf der Scheibe ebenfalls abgebildete Konstellation Plejaden - auch schon brennend für offene Sternhaufen wie unseren christmas tree cluster interessiert.  

Und zum Sektglas oben gehört ja noch eine kurze Bemerkung zum Datum des Jahreswechsels - und hier wird es nun endgültig hochherrschaftlich-willkürlich, wenig astronomisch und es bieten sich im Grunde viele proprietäre Alternativen an. Also - alles hängt mit allem oder mit garnichts zusammen. Oder: Man muss die Feste feiern, wie andere sie fallen lassen. Trotzdem oder drum: Prosit !!! 


Weiteres Lesen / further links


Das Beste kommt zum Schluss - hier der link zu einer genial guten Aufnahme der von Nebeln durchzogenen Region auch um den christmas tree cluster, diesmal sinnrichtig - dabei dann mit der Nordrichtung abwärts wie im zweiten, dritten und vierten Bild oben. Den Weihnachtsbaum finden Sie hier im mittleren Feld, wenn Sie sich das Bild in drei mal drei = neun Felder aufgeteilt vorstellen:

http://www.spektrum.de/fm/1027/NGC2264-1800-full-FOV-Geissinger.jpg