Dienstag, 23. Mai 2017

Wehrpflicht – Parlamentsarmee vs. Bürgerarmee



Derzeit scheint ein Bundeswehrskandal dem anderen die Türe in die Hand zu geben; viele rufen nach einer Erneuerung der Wehrpflicht. Aber das wäre aus meiner Sicht nur die halbe Miete – es geht um nichts weniger, als die Aufgaben der Bundeswehr wieder in der Mitte der Bürger/innen zurückzutragen; die Kernaufgaben der Bundeswehr müssen wieder unsere Kernaufgaben werden. Sonst würde es bei den vielen robusten Bewerbern für robuste Missionen bleiben müssen:
Von einer reanimierten Wehrpflicht das Ende aller Bundeswehrskandale zu erwarten, das wäre ein realitätsfernes Überschätzen. Das Problem liegt anders, es hat dennoch mit der Wehrbeteiligung, eigentlich mit der Kernaufgabe „Wehren“ zu tun. Bereits 1993 warnte eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr davor: Unsere Armee werde „zunehmend für junge Männer attraktiv, die den demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind“. Und da faktisch eine Situation bestehe, die für Wehrpflichtige die Wahlfreiheit eröffne, nämlich ‚zum Bund’ oder ‚Zivi’, sei damit zu rechnen, dass „auch die anstehenden Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potential in die Bundeswehr tragen werden“. Das Problem der Attraktivität für Modernitätsverlierer stelle sich aber nicht nur für die Wehrpflichtigen, sondern auch und gerade für die Freiwilligen. Daher werde man bei dem damals bereits diskutierten Übergang zum Freiwilligensystem „hier unter politischer Perspektive besondere Umsicht walten lassen müssen.“

Zitate aus:
Heinz-Ulrich Kohr, RECHTS ZUR BUNDESWEHR, LINKS ZUM ZIVILDIENST? ORIENTIERUNGSMUSTER VON HERANWACHSENDEN IN DEN ALTEN UND NEUEN BUNDESLÄNDERN ENDE 1992 (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März 1993) = http://www.mgfa-potsdam.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID=92bb8
Tatsächlich aber verkümmerte die Anziehungskraft für Bewerber aus der bürgerlichen Mitte schon Mitte der Neunziger Jahre in dem Maße rapide weiter, in dem das Aufgabenspektrum und auch das Einsatzgebiet der Bundeswehr grenzenloser und unkonturierter wurden. Dies war auch abzulesen an den zwischenzeitlich herausgegebenen Weißbüchern und verteidigungspolitischen Richtlinien, die im Rahmen der „inneren Führung“ immer weniger strukturier- und vermittelbar gerieten.
Wenn wir auf dem Weg zur Bürgerarmee weiterkommen wollen, dann müssen wir die Aufgaben der Bundeswehr endlich offen gesellschaftlich debattieren, gerade im anstehenden Wahlkampf und mit allen Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre, dabei auch den Zusammenhang zwischen Auslandseinsätzen, Destabilisierung und Flucht ausleuchten. Dabei könnten wir zu Zielen zurückfinden, mit denen sich die bürgerliche Mitte nun wieder aktiv identifizieren kann – etwa das Wehren bzw. die Verteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff im bis 1990 allgemein geltenden Verständnis. Eine wiederbelebte Wehrpflicht kann bei einem stärkeren Verwurzeln der Bundeswehr im Bürgertum helfen. Garantieren kann sie das nicht, insbesondere nicht als isoliertes und symbolhaftes Projekt.

MfG
Dr. jur. Karl Ulrich Voss

P.S.:
Zur Vervollständigung und näheren Begründung meiner Position: Vier meiner Leserbriefe zur Außen- und Sicherheitspolitik und ihrer nach fünfundzwanzig Jahren Praxis noch immer ausstehenden öffentlichen Debatte, wie sie im Habitat deutscher Politiker veröffentlicht wurden – zwei aus der Zeit vor, zwei aus der Zeit nach Aussetzen der Wehrpflicht; mehr bei Bedarf unter http://www.vo2s.de/mi_leser.htm.

(123) 27.3.2015
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 10.4.2015
Bundeswehr-Spezialkräfte; Christoph Hickmann, „Hart an der Grenze“ (Süddeutsche Zeitung v. 24.3.2015, S. 3)
   Aufständische Terroristen und Spezialkräfte bilden gemeinsam ein perpetuum mobile der auswärtigen Gewalt: Wo Kriege nicht mehr erklärt werden, wo Kriegsgründe diffuser und letztlich eigennütziger werden, wo Einsatzkräfte zunehmend ohne Parlament und Bürger auskommen, da ist die zivile Geisel oder ist der Anschlag im öffentlichen Raum das zynische, aber letztlich konsequente Mittel der Wahl. Remedur ist dann der nicht mehr konventionelle Kampfstil, den Spezialkräfte nochmals weiter entfernt von der bürgerlichen oder parlamentarischen Kontrolle gelehrt bekommen und ausüben. Die im Beitrag beschriebene Auswahl und Ausbildung, das elitenhafte Selbstverständnis und die nach außen abschottende Kameradschaft – sie unterscheiden sich von Chris Kyles biografischen Eindrücken („American Sniper“) nur graduell, aber nicht grundsätzlich.
   In Grunde reden wir von „German snipers“ und genau von dem, vor dessen Giftwirkung Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ mit guten Gründen gewarnt hatte: Vertrauenswidrige Strategien wie Meucheln und Giftmischen, die dann jedem nachhaltigen Frieden entgegenstehen. Mindestens ebenso fatal ist die zersetzende Wirkung für den Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie – wenn nämlich fundamentale Rechte ohne konkrete Eingriffsgrundlage verletzt werden und selbst die Parlamentskontrolle nicht greift. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner 2008er Entscheidung zur Beteiligung an der Luftsicherung der Türkei warnend auf mögliche „Eigengesetzlichkeiten der Bündnissolidarität“ hingewiesen und darauf, dass die Mitwirkung des Bundestages nicht „im Lichte exekutiver Gestaltungsfreiräume oder nach der Räson einer Bündnismechanik“ bestimmt werden dürfe, sondern „im Zweifel parlamentsfreundlich“, auch wegen des immanenten „politische(n) Eskalations- und Verstrickungspotenzial(s)“. In einer folgenden Anhörung des Bundestages am 25.9.2008 haben sodann alle beteiligten Experten die stark beschränkte Information über den Einsatz von Spezialkräften im Wege des eingefahrenen sogenannten Obleuteverfahrens als nicht rechtmäßig und als korrekturbedürftig eingeschätzt. Verändert hat sich danach nichts. Beim Drama am Kundus am 4.9.2009 war die Task Force 47 an der verhängnisvollen Entscheidung zur Bombardierung der Tanklaster beteiligt.
   Wichtig scheint mir: Fast jeder führt hier geradezu instinktiv Geheimhaltung ins Feld – um die jeweiligen Operationen und eben auch die Beteiligten selbst zu schützen. Aber Geheimhaltung isoliert die Menschen in Spezialkräften auch vor genau dem Schutz, den ihnen das „Parlament des Heeres“ schuldet, und fördert gerade jenen einigelnden Komment und ein verqueres Verständnis von Professionalität und Leistungsbeweis. Transparenz wäre jedenfalls in der Rückschau gefahrlos möglich und ein demokratischer Mehrwert. Um nochmals Kants „Ewigen Frieden“ zu zitieren: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht."

Quellen:
Die Kant-Zitate stammen aus "Zum Ewigen Frieden" (2. Auflage 1796), 6. Präliminarartikel (Reclam-Ausgabe S. 7f) und Anhang II. (Reclam S. 50), siehe ansonsten http://philosophiebuch.de/ewfried.htm
Bundesverfassungsgericht v. 7.5.2008, Az. 2 BvE 1/03 (Beteiligung an der vorsorglichen Luftüberwachung der Türkei gegen mögliche Angriffe aus dem Irak): http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2008/05/es20080507_2bve000103.html
Oben zitierte Anhörung des Bundestages am 25.9.2008 u.a. zur parlamentarischen Kontrolle von Spezialkräften:
http://www.vo2s.de/mi_pbg-anh.htm (Dokumentation incl. Protokoll); http://www.vo2s.de/mi_pbg2008_drs_16-G-27_voss.pdf (Gutachten des Verfassers dieses Leserbriefs)
Das Obleute-Verfahren findet sich kurz beschrieben in dieser Antwort der Bundesregierung 14.11.2014 auf eine parlamentarische Anfrage (S.54):
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/032/1803215.pdf
(91) 24.8.2010
Frankfurter Allgemeine Zeitung, abgedruckt 4.9.2010
Bundeswehr-Reform u. Aussetzen der Wehrpflicht; Berthold Kohlers Leitglosse "Rückzugsgefechte" (F.A.Z. v. 24.8.2010, S. 1):
   Hat da jemand die Wehrpflicht verzockt und nebenbei den Markenkern der Christdemokraten? Ganz neu ist die Reform-Tendenz ja nicht: Seit 1990 sehen wir die Bundeswehr - und die NATO - in einer kontinuierlichen Findungsphase, auf den verschiedensten Konfliktfeldern und mit ständig runderneuerten und teilweise entschlackten Organisationsformen und Rüstungen. Längst verfügen wir Deutschen wieder über Kriegsschiffe, die Landziele bekämpfen können, und über durchtrainierte Eingreiftruppen. 'Kanonenboote' und 'Expeditionskorps' sagte man dazu um die vorletzte Jahrtausendwende herum, etwa beim kolonialen Niederringen des Boxeraufstandes. Bald lohnt wohl wieder, Kaiser Wilhelms damalige 'Hunnenrede' nachzulesen.
   Erfolgsmeldungen der neuen ambitionierten Außen- und Sicherheitspolitik sind dagegen rar, am ehesten noch bei der blitzartigen "Operation Libelle". Warum wir uns dann schon wieder auf neue martialische Herausforderungen einstellen sollen, dabei die profilgebende und zu den Abgeordneten rückkoppelnde Wehrpflicht über die Planke jagen müssen und letztlich eine neue Republik einläuten, all das bleibt mir ehrlich gesagt völlig unklar. "Volenti non fit iniuria!" oder "Berufssoldaten kann man alles antragen!"? Das sollte es eigentlich nicht sein. Geht's dann bei der Reform tatsächlich nur um das Geld, das wir nicht mehr haben, und um die Lebenslüge auswärtiger Potenz, die oft beschworene neue Normalität?

Quelle:
Zur Hunnenrede von Wilhelm II., gehalten am 27.7.1900 bei Verabschiedung des deutschen Südostasiatischen Expeditionskorps in Bremerhaven: http://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede

(79) 16.11.2006
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 22.11.2006
Kontrolle der Bundeswehr; Peter Carstens "Einsatz und Kontrolle" (Frankfurter Allgemeine 13.11.2006, S. 1)

   Das Klandestine ist dem Militär eigen. Natürlich will man dem Feind nicht eröffnen, wie und wo man zuzuschlagen gedenkt; auch Finten gehören zum Geschäft. Nun wird der Feind aber auch oft im eigenen Lager vermutet, gerade bei den Zivilisten im Tross. Wenn’s dann schief gegangen ist, gibt dies Anlass zu Dolchstoßlegenden – nach dem ersten Weltkrieg ebenso wie nach Vietnam: Auf dem Felde unbesiegt, ist den Offizieren das vor Angst kopflose Volk in den Rücken gefallen. Selbst Fremde, wenn denn militärisch qualifiziert und verbündet, sind in den Korpsgeist noch eher mit einbezogen und werden als ungleich verständnisvoller und vertrauenswürdiger eingeordnet als die – zumal ungedienten – Zivilisten, vielleicht gar die Sozialisten, die unwürdig um des Volkes Gunst buhlen. Ist der Krieg erst einmal vorbei, liegen sich selbst die ehemaligen militärischen Feinde zu Jahrestagen des Todes achtungsvoll und tief bewegt in den Armen. Am besten sogar – und das ist der Pawlow’sche Reflex nach Vietnam – man sieht überhaupt vom wehrpflichtigen Bürger in Uniform ab, schafft auch persönliche Distanz zum wankelmütigen Volk und eine ungetrübte Atmosphäre des Militärisch-Professionellen.
   Nüchtern betrachtet: Dieses Denkmuster erleichtert und verlängert Projekte wie Afghanistan und Irak, macht das nach Bewährung und Ressourcen suchende Militär auch verfügbarer für partikuläre Interessen. Nun kann man die engste Kopplung von Einsatz und Kontrolle, die Kant in seiner unsterblichen Schrift „Zum ewigen Frieden“ erwähnt hatte, unter heutigen Bedingungen kaum realisieren. Dies war die gute alte Tradition des Kampfes der Häuptlinge, bei der Planung, Ausführung und Schmerzempfinden in einer Person zusammenfielen. Auch den weiteren Rat Kants, die Entscheidung über den Krieg den eigentlichen Lastenträgern, also dem Volk, persönlich zu übertragen, möchte ich als heute eher unrealistisch außer Acht lassen. Aber wir brauchen tatsächlich mehr Transparenz und Rückkopplung. Dies mag bei geheimhaltungsbedürftigen operationellen und logistischen Fragen auch, wie von Peter Carstens vorgeschlagen, einem hoch repräsentativen parlamentarischen Gremium anvertraut werden. Aber die Grundfragen und die fundamentalen Abwägungen – zum Schutz welcher Rechtsgüter wollen wir in existenzielle Grundrechte von Soldaten und von deren Gegnern eingreifen – und die Evaluation von Missionen nach Ziel und Erfolg, das muss hoch öffentlich erörtert und entschieden sein. Sonst lernt das Volk aus Kriegen nichts, zumal nicht aus den Kriegen hinter dem Horizont.
   Mit ihrer breiten medialen und politischen Kompetenz ist die F.A.Z. eine der ersten Adressen, den Wunsch der Kanzlerin aus dem Vorwort des Bundeswehr-Weißbuchs 2006 aktiv aufzugreifen, nämlich diese für Einsatz und Kontrolle grundlegende gesellschaftliche Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik beherzt anzustoßen.

(10) 25.08.1993
Rheinischer Merkur; abgedruckt 10.9.1993
Militärpolitik; Ausländerfeindlichkeit
T. Kielinger im Merkur v. 20.08.93, S. 1 ("Wofür noch Verteidigung?")
   Es mindert eigene Betroffenheit und ist daher höchst verführerisch, die erweiterten Aufgaben der Bundeswehr auf ein Berufsheer zu delegieren. Aber es ist gefährlich:
   Zum einen verlöre der Staat ein für die angemessene Handhabung seiner militärischen Werkzeuge wichtiges feedback: der Staat darf letztlich nur anordnen, was er persönlich - idealiter unter repräsentativem Engagement der Bürger - auch in die Tat umzusetzen bereit ist. Die unkritische Verfügbarkeit einer légion étrangere oder eines dirty dozen, die noch dazu an laufenden Beweisen der eigenen Effizienz interessiert sein müssen, ist eine viel zu geringe Hürde.
   Zum zweiten: Die Gemeinschaft darf nicht den Eindruck erwecken, sie wolle einigen wenigen Bürgern das Recht auf Leben und physische oder psychische Unversehrtheit abkaufen. Gerade in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit und insbesondere in den neuen Bundesländern würde dies wie eine Verleitung zur Prostitution besonders schutzwürdiger Rechte wirken. Die sehr attraktiven Zulagen nach dem neuen Auslandsverwendungsgesetz haben bereits genau diesen Beigeschmack.
   Und schließlich: Eine Berufsarmee entfernt sich weiter von der Idee einer Bundeswehr, die möglichst die Einstellungen der Bevölkerung widerspiegelt. Eine aktuelle Studie des Sozial-wissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr in München identifiziert schon jetzt eine deutliche Verschiebung des Bewerberpotentials der Bundeswehr hin zur rechten Seite des politischen Spektrums und warnt vor der Gefahr zunehmender Attraktivität der Bundeswehr für junge Männer, die den demokratischen Zielen und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77, März 1993). Diese Tendenz wird durch Schaffung einer Berufsarmee, die auch Aufgaben einer Fremdenlegion erfüllen soll, gewaltig angefacht. Die Vorstellung, von Rechtsradikalen bei einem Auslandseinsatz vertreten zu werden, ruft bei mir erhebliche Beklemmungen hervor.

Montag, 22. Mai 2017

Leitkultur, Feinstaub und des Ministers Bauerntölpel



Karl Ernst Thomas de Maizière – das ist der frühere und heutige Innenminister, frühere Verteidigungsminister, auch mal Chef des Kanzleramts – der hat Ende April seine Thesen zur deutschen Leitkultur veröffentlicht und wollte damit eine gesellschaftliche Debatte anstoßen, vielleicht auch punkten bei allen denjenigen, die ohnehin meinen, die Fremden oder das Fremde bei uns werde längst zu frech, sei auch Ursache der meisten Übel und Konflikte.
Was ist nun eigentlich eine (deutsche) Leitkultur bzw. was könnte dazu gehören? Oder auch: Wer könnte wie an ihr teilhaben? Protestanten eher in Hamburg als in Bayern? Flüchtlinge nach gehörigen Tests und nur, wenn wir sie konkret brauchen – also Migranten-Nützlinge, eher nach Vollendung akzeptierter Berufswege, weniger die Jugendlichen? Gehören Bauten eher mit einem Kreuz darauf dazu wie bei dem gerade wieder auferstehenden Berliner Stadtschloss?
Der ursprünglich von dem Politologen Bassam Tibi eingeführteBegriff „(europäische) Leitkultur“ hat eine wechselvolle Geschichte, de Maizières nunmehriger Vorstoß knüpft – auch hinsichtlich seiner Durchschlagskraft – an diverse Vorläufer an. Wenn Leitkultur eine Essenz dessen ist, was die Eliten einer Gesellschaft ihren Schutzbefohlenen zum besseren Zusammenhalt, zur gehobenen Stimmung oder zur leichteren Abgrenzung verschreiben, dann müsste auch Feinstaub – oder dessen klagloses Ertragen – dazu zählen. Denn Feinstaub gehört offenbar bis auf Weiteres in die Mitte unserer Städte und Lungen. Ein Fahrverbot für Dieselantriebe in Fahrzeugen jeder Art – undenkbar! Exkurs: Dass Dieselruß insbesondere in Ballungsräumen Gesundheitsrisiken verursachen kann, ist seit Jahrzehnten bekannt. Dennoch gab es über die Jahre immer wieder staatliche Kaufanreize wie Steuervergünstigungen. Ich bekenne, selbst mal einen auch wunderbar sparsamen und langlebigen Citroen AX besessen zu haben (50 PS bei unter 800 kg Gewicht, Verbrauch ca. 4 Liter!!!); er war wegen seines Oxydations-Katalysators tatsächlich zeitweise steuerbefreit. Meine damalige Begeisterung, aber auch mein wegen des Dieselruß angestrengtes Gewissen kann man hier noch etwas nachleben. Weiterer Exkurs: Auf einer Umweltmesse hatte ich damals Verantwortliche für die Motorenentwicklung von Volkswagen gesprochen und mich insbesondere nach Fortschritten bei der Abgasreinigung erkundigt. Nein, Filtertechniken wie die damals von Peugeot zur Serienreife entwickelte F.A.P.- Technologie verfolge man nicht – man setze auf optimierte Motorensteuerung, die die Menge und Größe ausgestoßenen Rußes unter das messbare Maß vermindere. Anm.: Bereits damals war die Problematik dann lungengängiger, sehr feiner Stäube – Ultrafeinstaub – durchaus bekannt.
Aber nun im Ernst: Feinstaub-Toleranz gehört natürlich nach keiner Definition zur Leitkultur, allerhöchstens indirekt, wenn man annimmt, das jedenfalls eine technokratische Grundausrichtung Teil der Leitkultur ist, die wiederum die Risiken einer kompetitiven technologischen Entwicklung bereits als naturgegeben ansieht und als in diesem System alternativlos in unser Leben eingepreist hat. So wie über Jahre das Passivrauchen als eine Art gesellschaftlicher Pflicht gelehrt wurde: Während meines Studiums in den Siebziger Jahren bekam ich von der Universitätsbücherei meine Ausleihen regelmäßig und geschmeidig in eine Plastiktüte gelegt, in der sich schon eine kleine Broschüre des Verbandes der Cigarettenindustrie befand, und nach deren einschmeichelndem Inhalt waren die Risiken des Passivrauchens nichts als völlig unbewiesene, böswillige Unterstellungen.
Wenn schon nicht der Feinstaub und auch nicht mehr das Passivrauchen, was könnte denn wirklich im aktuellen Warenkorb der „Leitkultur“ liegen? Lothar de Maizière hat ja schon eine Menge content definiert: Namen nennen, Hand geben, Allgemeinbildung haben, Leistung bejahen, nationale Geschichte zugeben, klassische Kultur pflegen, religiöse Toleranz staatlich fördern, gewaltfrei leben, das eigene Land lieben, ohne dafür andere zu hassen, im Zweifel nach Westen blicken, gemeinsame Erinnerungen, Stätten und Brauchtum wie Brandenburger Tor, den Brand der Synagogen, die Fußballweltmeisterschaft und den Karneval bewahren. Aber da gehört sicher noch mehr und anderes in die nähere Wahl: Gehört Barmherzigkeit dazu, das gegenseitige Grüßen, ein Atlantik voller Cola oder überhaupt der omnipräsente Konsum, Export und das Wirtschaftswachstum der Industrienationen? Zählt die responsibility to protect (R2P) darunter oder weitergehend der militärische Eingriff zur Wahrung wohlverstandener Interessen, etwa auch zum Schutz der Rohstoff- und Absatzwege? Ggf. eine globale Politik der offenen Türe – mit der wir uns schon mal den ewigen Spitznamen „Hunnen“ verdient hatten? Über alles das und noch viel mehr kann man trefflich und endlos streiten. Im Grunde geht es wie beim MHC eben einfach darum: Was gehört dazu und was nicht? Oder in unserem Fall genauer: Was und wer soll aus der Sicht des jeweiligen Diskutanten dazugehören? In Zeiten der selbst postulierten Globalisierung wird diese Frage sinnloser und sinnloser – es sei denn, man nutzt sie, um ein wenig scheinheilig Fremdenfurcht zu transportieren.
Nachtrag: Aus einem gewissen Blickwinkel hat Thomas de Maizière allerdings eine besondere Expertise für die aufgeworfene Fragestellung. Ist er doch ein ausgewiesener Kenner auch fremder Kulturen, die er noch als Verteidigungsminister in ihren angestammten Lebensräumen besuchte. So am Sonntag, dem 6. Oktober 2013, als er feierlich den Afghanen den Schlüssel für das Feldlager Kundus übergab. In seine Rede, die unter dem o.g. Link auch noch heute auf Englisch, Dari und Paschtu verbreitet wird, hatte er feinsinnig afghanisches Erzählgut eingewirkt; ganz sicher war dies das Ergebnis seiner eingehenden Durchforschung der am Hindukusch obwaltenden Leitkultur. Es war die Erzählung vom schlauen alten Bäuerlein (oder vom klugen Herrn de Maizière), das seinen tumben Söhnen noch eine abschließende Lehre erteilen konnte.
Das alten Bäuerlein verbreitete die Mär, im bald zu vererbenden Acker wäre ein Schatz verborgen. Sogleich wühlten die sonst eher morgenländisch-fatalistischen Nachkommen in ungestümer Konkurrenz den Boden um. Sie fanden nichts und bemerkten erst später, dass der so umgegrabene und belüftete Acker nun höchst erfreuliche Früchte ihrer ungewollt gemeinschaftlichen Arbeit trug (Zusammenfassung des Blog-Autors).
Der damit zu transportierende pädagogische Sub- oder Meta-Text sollte wohl sein:
Trotz meiner unermüdlichen Bemühungen sieht es bei euch immer noch trostlos und gottverlassen aus. Aber wenn ihr euch hier nun mal endlich richtig reinhängt – und mir nicht etwa nach Deutschland nachreist – dann wird das schon was, ganz sicher!
Und flugs nahm er sein launig-lappiges tarngeflecktes Käppi ab, stieg in den Dienstflieger, wurde vom Krisenreaktions-Minister mal wieder zum Innen- und damit auch Wanderungs- und Aufenthaltsminister und konnte von Stund an noch besser regeln, wer oder was hierzulande dazugehört, hier, wo wir alle Krisen heldenhaft fernhalten.Weswegen wir die heute so allfälligen Krisen frühzeitig und möglichst fern von uns vor Ort im Keim ersticken.
Dass an den Orten, an denen Deutschland und/oder seine westlichen Bundesgenossen militärisch oder diplomatisch-destabilisierend eingegriffen haben, in der Folge nur sehr, sehr wenig Fruchtbares wuchs, insbesondere keine tragfähigen, krisenfreien Staatswesen, dass von dort gut vorhersagbare Fluchtbewegungen ausgehen, die man auch als heimkehrende collateral damages oder als Bumerang-Krisen verstehen darf, darüber hat Thomas de Maizière, soweit mir bekannt, bisher noch nicht öffentlich sinniert. Aber mit seiner hübschen These von der klassischen Bildung als einem wesentlichen Teil der Leitkultur könnte er ja auch z.B. Goethens Zauberlehrling mitgemeint haben, vielleicht sogar die kongeniale Adaption durch den guten alten Walt. Das wäre dann sogar die klassische Bildung, vermittelt durch Westbindung. Und eine wirklich wirkmächtige Leitkultur.

MfG
Dr. jur. Karl Ulrich Voss