Samstag, 22. Oktober 2016

Kundus 2009: Lerne zu schlagen, ohne zu haften



Kundus 2009: Lerne zu schlagen, ohne zu haften
1.   Die Rahmenbedingungen meines Post: Ich bin gerade in Linköping, Schweden, besuche meinen Sohn, der hier i.R. eines Auslandssemesters studiert, lese als Reiselektüre rein zufällig Ferdinand von Schirachs „Der Fall Collini“ und vor einigen Tagen (6.10.2016) hat der Bundesgerichtshof seine Entscheidung in Sachen Opferentschädigung für die Geschädigten und Hinterbliebenen nach der Tanklaster-Katastrophe am 4.9.2009 am Kundus getroffen.
Die aktuelle BGH-Entscheidung hat einiges Aufsehen erregt, da sie im Unterschied zu vorangegangenen Urteilen eine staatliche Verantwortung gegenüber zivilen Opfern militärischer Einsätze rundheraus verneint, damit für operative Einzelentscheidungen nun weitestgehend (rücksichts-)freie Hand gewährt. Veröffentlicht ist Entscheidung – erstaunlicherweise – noch nicht, aber man darf annehmen, dass die in der Pressemittelung Nr. 176/2016 des BGH v. 6.10.2016 genannten Argumente die wesentlichen sind:
(1)   Bei Militäreinsätzen entsteht kein Ersatzanspruch von geschädigten Zivilisten (noch weniger dann wohl gegnerischer Soldaten oder paramilitärischer Kräfte) gegen den deutschen Staat. Technisch gesprochen: Für militärische Amtspflichtverletzungen gibt es keinerlei Haftung nach § 839 Abs. 1 S. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 S. 1 unserer Verfassung.
(2)   Schadensersatzansprüche stehen allenfalls dem Heimatstaat der Geschädigten, Getöteten bzw. Hinterbliebenen zu und nur dieser dürfte, wenn er so entscheidet, Ansprüche gegenüber der Bundesrepublik geltend machen bzw. einklagen.
(3)   Würde man unmittelbare Ansprüche der Geschädigten zulassen, so würde man wegen der dann etwa auch der Bundesrepublik zuzurechnenden pflichtwidrigen Handlungen von Bündnispartnern kaum eingrenzbare Haftungsrisiken begründen, damit auch die Bündnisfähigkeit in Frage stellen.
(4)   Es sei nicht Aufgabe der Gerichte, Geschädigten Ausgleichsansprüche zuzubilligen; auch wegen der Folgen für den deutschen Staatshaushalt wäre dies Sache des Parlaments, genauer des Gesetzgebers.
(5)   In jedem Fall habe der verantwortliche Offizier alle zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen genutzt und dabei etwaige zivile Schäden nicht vorausgesehen, habe damit völkerrechtlich zulässig gehandelt.
2.   Zunächst zurück zu meiner Urlaubslektüre: Ferdinand von Schirachs „Collini“ beschreibt den teil-fiktiven Fall des Hinterbliebenen einer brutalen deutschen „Sühne-Maßnahme“ gegen italienische Zivilisten im ausgehenden Zweiten Weltkrieg in der Nähe Genuas. Massaker dieser Art haben die Gerichte immer wieder beschäftigt, sei es nach „sühnenden“, aber eigentlich präventiven Massakern in Griechenland, Frankreich oder eben Italien. Die Opfer bzw. ihre Hinterbliebenen hatten und haben vor deutschen Gerichten durchgehend einen schlechten Stand.
Zivile Opfer, neudeutsch auch „collateral damages“ haben auch die deutschen bzw. alliierten Auslandseinsätze nach der Zeitenwende zu Beginn der Neunziger Jahre begleitet. Wir wissen darüber aber eher zufällig; offizielle Stellen dokumentieren dies – im Gegensatz zu eigenen militärischen Verlusten – nach meinem Wissen nicht. Auch gab und gibt es zwar immer wieder eine Debatte um das angemessene Erinnern an Gefallene deutscher Auslandseinsätze – für ein Denkmal für zivile Opfer ist es aber wohl noch Jahrzehnte zu früh. Auch Gedächtnisstätten für die Opfer von Holocaust bzw. die Shoa und für weitere Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft brauchten viel Zeit und teils sehr irritierende Debatten.
Ein paar Opfer sind mir immerhin namentlich bekannt und können auch als eine nach Erdteilen stellvertretende Auswahl gelten:
Der junge Somali
FARAH ABDULLAH
† 22.1.1994 BEI BELET HUEN,
die serbische Schülerin
SANJA MILENKOVIĆ
† 30.5.1999 BEI VAVARIN,
die afghanische Mutter
BIBI KHANUM
† 28.8.2008 MIT ZWEI KINDERN BEI KUNDUS
.
Farah Abdullah stirbt – möglicherweise aufgrund eines beiderseitigen Missverständnisses – nachts bei der Bewachung des deutschen Feldlagers bei Belet Huen; er ist soweit bekannt das erste zivile Opfer eines deutschen Auslandseinsatzes, damals im Zusammenhang mit der am Ende fehlgeschlagenen Operation UNOSOM II. Bibi Khanum wird gemeinsam mit zweien ihrer Kinder an einer deutschen Straßen-Kontrollstelle in der Nähe von Kundus erschossen, im Rahmen der Sicherheits- und Wiederaufbaumission ISAF und ca. ein Jahr vor der Bombardierung der Tanklaster an der Kundus-Furt. Sanja Milenković ist diejenige, die ganz offenbar dem BGH Anlass zu seinen nunmehrigen Erwägungen zur ggf. überwältigenden Mithaftung für Bündnispartner gegeben hatte: Sie stirbt, als ein amerikanischer Kampfjet im Zuge der OPERATION ALLIED FORCE / OAF gegen die Bundesrepublik Jugoslawien eine Brücke angreift, über die am helllichten Tage gerade der (zivile) Omnibus mit u.a. der serbischen Schülerin fährt. In seiner Entscheidung v. 28.7.2005, Az. II ZR 190/05 hält der BGH in solchen Fällen noch die grundsätzliche Ersatzpflicht bei militärischen Amtspflichtverletzungen für immerhin möglich, weist die damalige Klage aber mangels unmittelbarer Beteiligung deutscher Militärs ab. Im Falle Bibi Khanum handelt die Bundeswehr – wie vorher bereits bei dem jungen Somali Farah Abdullah – mit den Familienclans ein so genanntes Blutgeld aus und kann den schicksalhaften Vorfall danach offenbar auf sich beruhen lassen.
3.   Wenn man der aktuellen BGH-Entscheidung folgt, so haftet unser Staat nicht für zivile Schäden, die er am Rande seiner Militäreinsätze herbeiführt, seien es Vermögensschäden oder gar Gesundheitsschäden, bis hin zum Tod. Keine Rolle spielt dabei, ob die Gefahr schuldhaft verursacht war, etwa auch bei Außerachtlassen dessen, was sich jedem Bürger unmittelbar aufgedrängt hätte, also selbst bei grober Fahrlässigkeit. Beschwichtigend fügt er noch hinzu, dass im Vorfeld der Bombardierung von zwei Tanklastern in einer Kundus-Furt ohnehin kein Verschulden hätte erkannt werden können.
Im Einzelnen:
Völkerrecht
Nach Ansicht des Gerichtshofs gibt es (Zitat) „nach wie vor keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der dem Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ein Anspruch auf Schadensersatz oder auf Entschädigung zusteht.“ Bemerkenswert ist zunächst das „nach wie vor“, es sagt ja so etwas wie „noch immer“ und deutet eine eigentlich schon sichtbare gegenläufige Entwicklung an, von der man sich noch auf einige Zeit abzugrenzen bemüht. Die andere und höchst vitale Entwicklung ist das seit Jahrzehnten zunehmende Gewicht individueller Rechte gegenüber den Rechten des souveränen Staates, wie es sich etwa in der auch von deutscher Seite häufig zitierten Doktrin der „Responsibility to protect“, aka R2P oder Schutzverantwortung manifestiert, auf das die Bundesregierung auch nach aktueller Positionierung setzt..
Darum halte ich die Argumentation des BGH, die offenbar eine prozessbegleitende Stellungnahme der Bundesregierung aufnimmt, an dieser Stelle für sehr signifikant und für widersprüchlich, geradezu für ein „venire contra factum proprium“: Die individuellen Rechte werden typischerweise zitiert und genutzt, um ein Eingreifen gegen eine bestehende, aber negativ bewertete Staatsmacht zu legitimieren und damit zumeist auch einen nachfolgenden „regime change“ herbeizuführen, gerade aber nicht, wenn es um das Verletzen individueller Rechte durch die intervenierenden Staaten selbst geht.
Ich halte eine solche Argumentation für umso widersprüchlicher, als das Grundgesetz den Schutz der individuellen Rechte nach der Erfahrung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in einem hoch differenzierten ersten Abschnitt programmatisch vorangestellt hat und durch rechtsstaatliche Gewähr wie in Art. 19 Abs. 1 bis 4GG und Art. 20 Abs. 3 und 4 GG zusätzlich abgesichert hat. Dass der Pflicht zur Wahrung existentieller Rechte gegenüber Menschen anderer Nationen geringer gelten würde – denen man das Verhalten der deutschen Exekutive noch nicht einmal über eine Wahlhandlung als mitbestimmt zurechnen könnte – das kann und will ich mir nicht vorstellen. Gerade nicht nach den Erfahrungen vor 1945. Im Gegensatz zum BGH halte ich daher ein individuelles Klagerecht von Menschen, die durch schuldhafte Handlungen im Zusammenhang mit deutschen Auslandseinsätzen zu Schaden kommen, für sach- und zeitgerecht und geradezu durch das Grundgesetz gerechtfertigt. Sollte Deutschland damit anderen Nationen vorausgehen, wäre das kein im schlechten Sinne vereinzelnder Weg, sondern ein historisch verantwortliches Zeichen – Avantgarde im besten Verständnis.
Amtshaftung
xxx
Finanzen und Bündnisrisiken
Eines der interessantesten Argumente zielt auf die Finanzkraft des deutschen Staates: Eine solche Haftung könne Deutschland überfordern, gerade wenn es im Verbund mit anderen Nationen eingreife.
W I R D   F O R T G E S E T Z T

Mein Leserbrief v. 11.10.2016 an die Süddeutsche Zeitung, freundlicherweise abgedruckt am 17.10.2016, S. 15
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sehr, sehr richtig: Deutschland will partout nicht haften. Aber nach unserer Verfassungsgeschichte und Werteordnung dürften wir das staatliche Verletzen elementarer Menschenrechte gar nicht ausblenden. Oder uns gar damit herausreden, solche Ansprüche mögen doch bitte nach überkommenem Brauch auf diplomatischem Wege von einer Landesregierung vorgetragen werden. Einer Regierung, die de facto von uns abhängig ist, ja fast einen Satrapen-Status hat und schon auf verlorenem Posten kämpft.
Der Bundesgerichtshof argumentiert in seiner Pressemitteilung: Bei der in wilhelminischer Zeit formulierten Amtshaftungsvorschrift habe der Gesetzgeber nicht an Haftung für Kriegshandlungen gedacht; auch bis zum Ende der Nazizeit wäre niemand auf eine solche kühne Idee gekommen! Da hat er wohl Recht. Aber will ich mich denn überhaupt an der von 1870 bis 1945 herrschenden Denke orientieren? Nein. Ich will einen zeitgemäßen, wirksamen Schutz der Menschenrechte, von Inländern wie Ausländern, und zwar unter Abwägung der Rechte, die durch militärische Einsätze geschützt werden sollen und solcher, die eben dadurch geschädigt werden können. Am besten nach Maßgabe von Art. 19 unserer Verfassung, unserer rechtsstaatlichen Lektion nach entfesselter mörderischer Staatsgewalt. Das hieße hier, die erlaubten Einsatztatbestände vorhersehbar, überprüfbar und abschließend zu normieren.
Solange es das noch nicht gibt, sollten wir mindestens für die humanitären Schäden unseres Handelns einstehen müssen. Krieg ist teuer, Kriegsfolgen auch – wobei die Opferentschädigung noch den allergeringsten Teil ausmacht. Das sollten wir sorgsam einplanen und finanzieren müssen. Und wenn wir mit Kameraden, Kumpanen oder Spießgesellen aus anderer Herren Länder ins Feld ziehen, dann sollten wir von vornherein wissen und einkalkulieren: Wir haften auch für das mit, was diese pexieren. Denn in der Gruppe Unrecht zu tun, das ist üblicherweise kein tauglicher Entschuldigungsgrund.
Mit freundlichen Grüßen
K. U. Voss
P.S.
Der Duktus der BGH-Entscheidung erinnert mit seiner „Genuss-ohne-Reue“-Anmutung und einer flankierenden, exkulpierenden Rolle der Diplomatie verdächtig an den von Kant karikierten Fürsten, der leichtfüßig und unbesorgt von Krieg zu Krieg eilt:
Da hingegen in einer Verfassung, wo der Unterthan nicht Staatsbürger, diese also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigenthümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. d. gl. durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustparthie aus unbedeutenden Ursachen beschließen, und der Anständigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Corps die Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen kann (Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Erster Definitivartikel zum ewigen Frieden: Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch seyn; zitiert nach http://philosophiebuch.de/ewfried.htm )