Freitag, 25. Oktober 2013

Klappe halten! Oder: Dein Dienst, das unbekannte Wesen

Jetzt wird’s ganz bunt. Gestern noch hatte der deutsche Außenminister den amerikanischen Botschafter einbestellt, um das Missfallen der Bundesregierung über das vermutliche Abhören des Kanzler-Handys auszudrücken. Verbündete sprechen untereinander sonst eher in der Art der manierierten Grußformel „beehre mich, die Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung erneuern zu dürfen“ und die Einbestellung eines US-Botschafters hat’s wohl seit Kaisers Zeiten nicht mehr gegeben. Das Auswärtige Amt wird es genau wissen, da führt man ganz alte Akten. Nach heutigen Meldungen warnen nun die USA alle Staaten davor, dass sensible Daten öffentlich werden könnten: Die beteiligten ausländischen Dienste würden jetzt nacheinander vom Büro des US-Geheimdienstdirektors James Clapper über möglicherweise kritische und sicherheitsgefährdende Enthüllungen informiert. Offenbar wüssten viele Regierungen gar nicht so genau, wie die grenzüberschreitende Kooperation der Nachrichtendienste so liefe oder: Was die eigenen Schlapphüte alles so mit den verbündeten Schlapphüten treiben würden. Und da sei eben manches wirklich geheim. Die Parole lautet dann in Klartext auch: "Klappe halten!"
Also zuerst einmal: Die Anruf-Aktion des Geheimdienstdirektors mag ja der realen Hackordnung der Staatengemeinschaft entsprechen; jenseits des Atlantiks fand man wohl die deutsche wie auch die voran gegangene französische, mexikanische und brasilianische Reaktion auf die Enthüllungen arg dégoûtant. Quod licet Iovi, non licet bovi. Aber läuft das hier im Ergebnis nicht ungefähr so, wie wenn der Erpresser gegenüber seinem Opfer durch die Zähne zischt „Keine Polizei, keine Presse!“? Drückt das nicht ein sehr von den Bürgern entrücktes pragmatisches, man kann auch sagen post-demokratisches Verständnis von Freiheit aus? Und könnte es sein, dass die Dienste solch ein Eigenleben führen, dass sie nicht nur die Kommunikation von Oppositions-Abgeordneten überwachen (und dann wohl auch brüderlich mit anderen Diensten teilen), sondern vielleicht sogar beim Abhören der eigenen Kanzlerin Schmiere gestanden haben? Dann könnte man ja fast glauben, was die Kanzlerin im Wahlkampf sagte: Sie habe keine Informationen über die Aktivitäten der NSA. Und Kanzleramtsminister Pofalla, als er im August die ganze Affäre für beendet erklärt hatte. Sie wussten es halt nicht besser. Keiner hat es ihnen gesagt.
Am Bild vom tragenden T der Geostrategie, das ich in einem voran gegangenen Post gezeichnet habe, da könnte wirklich etwas dran sein: Dass nämlich entscheidende und sogar schicksalhaft fortwirkende Weichen nicht in nachverfolgbarer demokratischer Kontrolle gestellt werden, sondern auf der stark ausgeprägten Waagerechten zwischen den Administrationen, in Gruppierungen mit einem besonderen Selbstbewusstsein hoher Professionalität, Diskretion und Autonomie. Deutsche Dienste haben essentielle Beiträge in Konflikten geliefert, an denen Deutschland nach offizieller Darstellung selbst überhaupt nicht beteiligt war, etwa Zielkoordinaten im Irak-Krieg oder – letzte und m.E. besonders erschreckende Enthüllung – Informationen über sowjetische Operationen in Afghanistan, in freundschaftlicher Kooperation mit und unter Förderung der noch „jungen“ Mudschahidin während der so genannten Operation Sommerregen. Die letztere lief noch dazu unter der Legende "humanitärer Hilfe" und war dann sogar geeignet, die Tarnung, nämlich tatsächliche Organisationen der humanitären Hilfe, zu diskreditieren. Exkurs: Das Rote-Kreuz-Mimikri von BND und Militär passt im Grunde auch schlecht zu dem heute ständigen Vorwurf, Aufständische würden sich feige in/hinter der Zivilbevölkerung verstecken. Exkurs Ende. Für die Aktion Sommerregen gab's in der Folge sogar noch ein Bundesverdienstkreuz. M.E. müssten wir dagegen sehr genau zu prüfen, ob die Operation überhaupt mit deutschem Recht vereinbar war. Ich zitiere aus einem auch im Übrigen sehr lesenswerten online-Artikel der WELT, der zumindest die richtige Frage stellt:
"In Zeiten, in denen weltweit über die Befugnisse von Geheimdiensten diskutiert wird, stellt sich die Frage, warum der Einsatz des BND in einem Kriegsgebiet der Sowjets ohne parlamentarische Zustimmung erfolgen konnte. Doch die Rechtslage ist einfach: Der BND war auch schon damals im Ausland nicht an das Legalitätsprinzip gebunden. Der Einsatz erfolgte mit Einverständnis der damaligen Bonner Regierung – erst der des Kanzlers Helmut Schmidt, dann der seines Nachfolgers Helmut Kohl."
Ich bezweifele sehr, dass die Rechtslage tatsächlich einfach ist, dass die Dienste im Ausland nicht an das Legalitätsprinzip gebunden wären und dann de facto über der Verfassung stehen sollten; dann wären sie tatsächlich ein Staat im Staate oder schlimmer noch: eine Art globaler Geheimbund, quasi legibus absolutus. Bei der Operation Sommerregen einmal ganz abgesehen davon, dass dort auch Sondereinsatzkräfte bzw. Elitesoldaten der Bundeswehr vor Ort mitgewirkt hatten, für die kann das angebliche Schlapphut-Privileg auf keinen Fall gelten.
Wir sollten bei den sehr erheblichen Zweifeln an der Vorgehensweise der Dienste nicht zur Tagesordnung übergehen und ich hoffe, dass unsere Kanzlerin nicht die Klappe hält. Und auch Ronald Pofalla nicht. Der trägt in den nun laufenden Koalitionsverhandlungen viel Verantwortung, direkt nach der Kanzlerin: Mitglied von großer Runde, kleiner Runde und Steuerungsgruppe. Eine spezielle Fach-Arbeitsgruppe für die Dienste gibt es naturgemäß nicht; das Thema wird sicher in der AG Auswärtiges, Verteidigung und Entwicklungszusammenarbeit mehr oder weniger öffentlich mitbehandelt - da ist Thomas de Maizière der Platzhirsch der CDU/CSU, immerhin auch ehemaliger Kanzleramtsminister, und Frank-Walter Steinmeier mit seinen eigenen Kanzleramts- und Dienste-Erfahrungen für die SPD. Schau'n wir mal, wie viel neue Legalität für die Dienste dabei herauskommt.

Zum Schluss noch ein erbaulicher Griff in den Zettelkasten, recht genau 50 Jahre zurück. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte damals gerade unter Verstoß gegen das Telefongeheimnis Abhörmaßnahmen durch alliierte Dienststellen vornehmen lassen. Hermann Höcherl / CSUBundesminister des Innern unter Adenauer und Erhard, sagt dann Anfang September 1963 auf den Vorwurf des klaren Verfassungsverstoßes u.a. die geflügelten Worte "Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen." Siehe dazu auch den Original-Spiegelartikel v. 18.9.1963 sowie den Artikel in html und mit dem damaligen Titelbild. Wie sich die Bilder im Grunde doch gleich bleiben. Und wem das Grundgesetz nicht passt, der kann es ganz legal ändern. Andernfalls die eigene Praxis.

Donnerstag, 24. Oktober 2013

Unser first handy ist verwanzt

Das Kanzlerhandy ist verwanzt. Die vielen SMS waren nicht nur für befreundete Politikerinnen offen – wie die legendäre Botschaft vom nahenden Rücktritt Karl Theodors – sondern ebenso für die so genannten befreundeten Dienste, ebenso ihre Gespräche. Wir können davon ausgehen: Das hat viele Verhandlungen für die, die immer ein paar Asse mehr im Ärmel hatten, kalkulierbarer und leichter gemacht. Ohne es zu merken, wurde unsere sonst eher zurückhaltende und vorsichtig agierende Frau Merkel zum sprichwörtlichen Waschweib.
Als Geheimschutzbeauftragter bekommt man es schon in den Grundlehrgängen beigebogen: „Es gibt feindliche ebenso wie befreundete Dienste. Gehen Sie vorsichtshalber davon aus, dass beide ungefähr das Gleiche können und auch tun.“ Und das ist der eigentliche Skandal: Dass zwar in unsere eigenen Dienste kaum vorstellbare Summen investiert werden, wie die Abermillionen in den festungsähnlichen Neubau des BND in Berlin mit der Kantenlänge eines U-Bahn-Streckenabschnitts und einer Fläche von mehr als 30 Fußballfeldern. Dass aber nicht einmal die Beratung der eigenen Regierungsspitze über Informationsrisiken, Angriffstechniken und die Grenzen des technischen Schutzes funktioniert hat. Nun ja, der Chef des BND (der, der zeitweise auch als fliegender-Teppich-Importeur in Erscheinung getreten war) ist ein erklärter und überzeugter Atlantiker. Entweder wurde er hier nach allen Regeln der Kunst angefüttert und eingewickelt. Oder die nationalen Hierarchien sind in der solidarischen Gruppendynamik und geschmeidigen Kooperation der Dienste ohnehin zweitrangig.
Die weitere Dimension: Am 11. Juni 2013 fand in Berlin der Jahrestag des BDI statt, des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Am gleichen Tag hatte das Handelsblatt mit einer Titelgeschichte zur NSA-Ausspähaffäre aufgemacht, mit Obamas ikonenhaftem Wahlkampf-Bild und -Logo „Yes we can“ leicht verfremdet zu „Yes we scan“. 

Das Handelsblatt wies in mehreren Artikeln auf die naheliegenden Risiken der Industriespionage hin. In den Festansprachen auf dem Jahrestag der Deutschen Industrie: Keine Spur davon, kein einziger Hinweis, dass die Problematik auch nur begriffen worden wäre, geschweige denn dass nun mit hoher Priorität Gegenstrategien auf die politische Agenda kämen. Oder: Dass man den Vorsprung durch Technik sonst getrost abschreiben könnte. Siehe zum Problembereich NSA-Abhörskandal auch meinen Post vom 7.6.2013 "To die in friendly fire: Rechtsstaat, Privatsphäre und Freiheit".
Wie schon auf dem BDI-Jahrestag, dann auch im Wahlkampf: Ebenso wie zu  Bundeswehr, Drohnen-Beschaffung und ISAF, so auch zum Abhörskandal komplette Fehlanzeige der Regierungsparteien. Bei unserer lokalen Podiumsdiskussion hatte der CDU-Kandidat, der am 22. September dann erwartungsgemäß mit großer Mehrheit gewählt wurde, auf konkrete Frage nach den möglichen Auswirkungen und etwaigen Vorsichtsmaßregeln ganz treuherzig gesagt: Er möchte gar nicht an der Stelle der Dienste sein – soviel Blech anhören zu müssen! Das war wohl auch abwiegelnd gemeint: Die Ozean-haften Informationsmengen unserer tagtäglichen Kommunikation, die könnte doch ohnehin niemand abschöpfen oder gar auswerten; und das hatte man sicher auch der Kanzlerin weisgemacht. Anm.: Der gute Mann war da schon für fünf Legislaturperioden im Bundestag und inzwischen immerhin amtierender Vorsitzender des Innenausschusses. Da sollte man mit der Arbeit der Dienste und der politischen Dimension von Abhör-Affären gut vertraut sein.
Wir haben einen gewaltigen blinden Fleck. Oder sogar mehrere: Einerseits vor den Aktivitäten unserer Bündnispartner – die zuallererst ihre nationalen Interessen im Blick haben, und zwar erklärtermaßen auch die ihrer Wirtschaft. Andererseits, was die Risiken von Technologie angeht, speziell der Informations- und Kommunikationstechnologie – für die ein ständig wiederkehrendes Kanzlerwort offenbar besonders gilt: „Alternativlos!“. Sind sie das wirklich oder sollte man nicht mal seriös mit den Bürgern darüber sprechen, dass es auch ein paar dunkle Flecken und Anlass für kluge Vorsicht gibt?

Nachtrag mit Auszug aus dem Wiki-Artikel zum BND (abgefragt 24.10.2013, Hervorhebungen von mir)
Der BND ist der Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland und damit zuständig für die Beschaffung sicherheits- und außenpolitisch relevanter Erkenntnisse aus dem Ausland bzw. über das Ausland (§ 1 Abs. 2 BND-Gesetz). Er darf hierzu nachrichtendienstliche Mittel, wie zum Beispiel Observation, Legendierungen und Tarnkennzeichen, anwenden. Im Unterschied zu den Auslandsgeheimdiensten einiger anderer Staaten hat der BND nach § 2 des BND-Gesetzes grundsätzlich keine polizeilichen Exekutivbefugnisse, ist also z. B. nicht zur Durchführung von Festnahmen berechtigt.
Seine Erkenntnisse gibt der Dienst weiter an die Bundesregierung und Abgeordnete des Bundestags. Nach eigenen Angaben erstellt der BND im Monat rund 300 Berichte zu verschiedenen Themen und Ländern und beantwortet im Monat etwa 800 Anfragen zu Krisengebieten oder konkreten Sachverhalten (Stand 2013). In Hintergrundgesprächen informiert der BND Abgeordnete, er nimmt an Sitzungen von Bundestagsausschüssen teil und brieft Ministerien. Seit Anfang 2009 ist der BND nicht mehr in acht, sondern in zwölf Abteilungen unterteilt. Der BND plant eine neue Abteilung mit 130 Mitarbeitern zur Abwehr von Cyberspionage.

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Papa Thomas und seine Märchenstunde am Kundus

Am vergangenen Sonntag, dem 6. Oktober, gab es in Kundus von traditionellem afghanischem Erzählgut zu hören und zu lernen:
Es war einmal ein Bauer, der hatte drei Söhne. Als er starb, ließ er seine Söhne zu sich kommen und sagte: Ich habe einen Schatz für Euch. Er befindet sich auf dem Feld. Wer ihn als erster findet, dem gehört er. Der Vater starb. Die Söhne gruben jede Ecke des Feldes um. Den Schatz fanden sie nicht. Als sie jedoch im Herbst die besonders guten Erträge verkauft hatten, verstanden sie die Worte des Vaters.
Und danach ein fröhliches "Tschüss, schönes Leben noch (so lang, wie’s halt hält) und macht es gut!" Der Vorleser, das war ein jovialer älterer Herr in einem new look, der wohl einen Übergang signalisieren sollte: Oben noch ein knappes, schlappes Hütchen im Tarnfleck, darunter schon wieder das outfit westlicher exekutiver Elite, einschließlich Binder - siehe das Bild auf dieser Seite der FAZ und diesen sehr lesenswerten, tief ernüchterten FAZ-Kommentar. Was wollte Thomas de Maiziére, denn der war’s in Person, nur in seiner kurzen farewell-address sagen? 
Unzweifelhaft sah er sich selbst in der Rolle des weisen Bauern, zwar noch nicht Tod-geweiht, aber immerhin abflugbereit. Die drei Söhne waren ganz offenbar Afghanen, vielleicht auch ganze Stämme des Landes. Der weise Bauer wusste, sie würden sich in der Triebhaftigkeit und Aggressivität ihrer Jugend (der Anteil der unter Dreißigjährigen liegt am Hindukusch tatsächlich massiv über dem der German aging population) nur um das in seinem harten langen Leben mühsam aufgebaute Erbe streiten und alles zunichte machen. Die feuerköpfigen Landeskinder tun das ja erfahrungsgemäß seit Menschengedenken und haben einen irren Spaß an Gewalt und Grausamkeit, gerne auch abends nach der Arbeit. Und so greift das weise alte Bäuerlein zu einer List, die die interpersonale, triebhaft zerstörerische Konkurrenz ohne das Wissen der Halbstarken, die bekanntermaßen nie wissen, was sie tun, in ein unerwartet erfüllendes Gemeinschaftsprodukt umleitet – zu ernten und zu erkennen erst dann, wenn der alte Vater schon lange still und bescheiden gegangen ist.
Für mich hört sich das, gemessen am deutschen Beitrag zur Lösung der Probleme Afghanistans, ungeheuer schräg an, und es war wohl noch schräger in afghanischen Ohren. Sind es nicht die völlig unweisen entwickelten Staaten, die kleine Ökonomien an den Rand drängen, bestenfalls ihre Rohprodukte aufkaufen (gut, jetzt auch das Opium) und die nach dem altbewährten Schema „divide et impera“ jede noch so kleine ethnische oder religiöse Rivalität zu ihren Gunsten nutzen? Haben die geschätzten 20 Milliarden, die allein Deutschland seit 2002 in das Projekt Afghanistan gesteckt hat, irgendetwas daran geändert, dass das Land noch immer zu den allerärmsten Staaten der Welt zählt? Und da entblödet sich ein ausgewachsener deutscher Minister nicht, dem Inhalt nach zu sagen „Nun streitet Euch man nicht weiter?“
Hätte de Maiziére seinen drei Söhnen statt "Streitet nicht!" nicht sagen sollen „Mir nach!“ und als Mindestes die Fahrkarten nach Deutschland zahlen müssen? Jedenfalls denen, die ihn über Jahre loyal bedient haben, und denen bald übel nachgestellt werden wird? 

Das allerdings hätte er vorher mit dem anderen Herrn abklären müssen, der auch immer so treuherzig guckt, dem, der die Eintrittskarten für Deutschland ausstellen müsste, das aber partout nicht will. Gestern (8.10.2013) hatte dieser Herr Friedrich des Innern noch einen heißen Tipp, wie man mit dem Flüchtlingsstrom umgehen muss, z.B. dem aus Afrika, wo gerade so viele von ertrunken sind: Er sagt, man muss nur dafür sorgen, dass die zuhause vernünftig leben können. Dann laufen die doch erst gar nicht los. 
Ach, so einfach ist das. Dass da aber in Jahrzehnten noch keine Menschenseele drauf gekommen ist!
Vielleicht hatte der innere Friedrich aber auch einfach das interessante Buch dieses Auslandskorrespondenten nicht gelesen und nur ein bisschen losgeplappert. Peter Grubbe hieß dieser weit gereiste und tatsächlich weise gewordene Korrespondent (mit einer allerdings sehr zweifelhaften Vergangenheit) und sein sehr gut recherchiertes Buch aus dem Jahr 1991 trägt den Titel „Der Untergang der Dritten Welt. Der Krieg zwischen Nord und Süd hat begonnen“. Grubbe/Volkmann dokumentiert, wie West und Ost nach Ende der Blockkonfrontation jedes Interesse an den nicht entwickelten Ländern verloren hatten – sofern dort eben nicht Rohstoffe zu schürfen waren – und die Länder verwahrlosten und praktisch implodierten; "failing states" nennen wir das gerne und ein wenig herablassend-bedauernd. Dabei sollten wir sie lieber als "falling states" einordnen, als Völker, die wir nach Gebrauch fallen gelassen haben. Grubbe beginnt mit einer Reportage aus einem völlig hoffnungslosen, im Sand versinkenden Timbuktu, Mali. Er berichtet, dass die frühere französische Kolonialmacht sogar einmal konkrete Rettungspläne gehabt hatte, diese aber längst fallen gelassen hatte. 1991. Lange vor nine eleven. Das wiederum zum Afghanistan-Einsatz geführt hatte. Und am Ende zur Geschichte vom weisen Bauern.

Ein Nachtrag, und er zeigt, dass wir Deutsche in Afghanistan schon viel länger ein- und ausgehen, als man uns Bürger hat wissen lassen: Das ZDF bringt am Tag nach der Übergabe des Feldlagers in Kundus - und nach der Wahl - abends um 20:15 h den ersten Teil einer sehr, sehr sehenswerten Dokumentation über den deutschen Einsatz in Afghanistan: "Unser Krieg. Kampfeinsatz Afghanistan". Am 22.10. wird der zweite und abschließende Teil gesendet. Und nun erfahren wir u.a. etwas, was den ISAF-Einsatz in Afghanistan und auch das demokratische Fundament der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in einem sehr bizarren Licht erscheinen lässt: Deutschland war zur Zeit des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan in den Achtziger Jahren im Rahmen der verdeckten Operation Sommerregen militärisch aktiv, indem Bundeswehrsoldaten gemeinsam mit den Mudschaheddin für den Bündnispartner USA Informationen über sowjetische Waffen und Kriegführung sammelte, quasi in der guten alten Tradition der Gruppe "Fremde Heere Ost", später "Organisation Gehlen", noch später und bis heute aka BND. Die WELT berichtet gleichzeitig ausführlich darüber. Wirkt das nicht wie bei einem Zauberlehrling?
 

Dazu sollte man sich auch nochmal das Interview des Nouvel Observateur mit dem Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinsky vor Augen führen - als dieser ganz freimütig bekannte, die amerikanische Operation zur Destabilisierung des damals mit der Sowjetunion verbündeten Afghanistan ("Operation Cyclone") hätte seinerzeit bereits vor dem sowjetischen Einmarsch begonnen. Brzezinki hat sie durchgehend als glänzende Idee verkauft, um den Russen ihr eigenes Vietnam zu verschaffen, letztlich damit auch die Sowjetunion gekippt zu haben. Islamischen Fundamentalismus - den man damals bewusst und massiv unterstützt hatte - den hielt Brzezinski für eine vernachlässigbare und beherrschbare Größe. Das Brzezinski-Interview fand nur ca 3 1/2 Jahre vor nine eleven statt, im Januar 1998, und sogar fünf Jahre nach dem weitgehend fehlgeschlagenen ersten Versuch des Terrornetzwerkes al-Qaida, das World Trade Center zum Einsturz zu bringen, am 26.2.1993. Hier das Augen öffnende Interview mit Zbigniew Brzezinski im Original mit deutscher Übersetzung

Ich möchte gar nicht ausschließen, dass die deutschen Dienste mit ihren notorisch guten Kontakten in den nahen und mittleren Osten auch gar nicht erst nach dem Einmarsch der Russen mit von der Partie waren - sondern dass sie schon in dieser sehr frühen Phase im Sommer 1979 eifrig und eilfertig mitgemischt haben. Dass sie damit für das effiziente Aufpäppeln eines islamischen Fundamentalismus besonders mitverantwortlich waren, den sie später bekämpfen mussten, wohl aber nicht konnten. Zur Erinnerung: Schon damals gab es Art. 24 Abs. 2, Art. 26 Abs. 1, Art. 45a Abs. 2, Art. 59 Abs. 2, Art. 87a Abs. 2 und Art. 115a Abs. 1 des Grundgesetzes - vom Schutz des Lebensrechts durch die Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 GG ganz zu schweigen. Die verdeckte Beteiligung an der "Operation Sommerregen" auf den Territorium eines souveränen Staates, völkerrechtswidrig, ohne nationalrechtliche Eingriffsgrundlage und ohne jede Einbindung des Bundestages hat damit klar und schwerwiegend gegen die verfassungsmäßige Rechts- und Zuständigkeitsordnung verstoßen. Hätten wir von diesen Kausalzusammenhängen nicht besser vor der Wahl gewusst, darüber debattiert und eine hoffentlich nachhaltigere Politik durch informierte und kompetente Wahlbürger/innen legitimiert? Tja, das wäre sicher viel demokratischer gewesen, aber unser schlaues Bäuerlein wollte genau das nicht so gerne, siehe: http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten.

Und ich nehme an, auch unser Bundespräsident Joachim Gauck, der noch am Tag der Einheit, am 3.10.2013, einen kraftvollen Appell für mehr Engagement und mehr Solidarität Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik formuliert hat, auch in fernen Ländern, auch militärisch - der hätte wohl doch vorsichtiger manövriert, hätte er schon um die ganz unheroischen und verfassungsfernen Untiefen solcher deutschen Bündnis-Dienste gewusst.

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Einheit macht stark. Oder schwindelig.

Bundespräsident Joachim Gauck hält am 3. Oktober 2013 seine erste Einheitsrede. Er spricht über vieles – und ein sehr langes Stück darüber, ob „Deutschland seine internationale Verantwortung ausreichend“ wahrnehme, auch bei der Bekämpfung "von Krisen in fernen Weltregionen“. Von seiner Frankreich-Reise habe er die Frage mitgebracht: „Erinnern wir Deutsche uns auch deshalb so intensiv an unsere Vergangenheit, weil wir eine Entschuldigung dafür suchen, den heutigen Problemen und Konflikten in der Welt auszuweichen? Lassen wir andere unsere Versicherungspolice zahlen?

Die "Versicherungspolice" knüpft in ihrem Kern an den wiederholten Vorwurf einer "Scheckbuch-Diplomatie" oder einer "Ohne-Michel-Strategie" der Deutschen an. Ich gebe die gesamte außenpolitische Passage hier einmal im Zusammenhang wieder:

    „Was ist nun die Aufgabe Deutschlands in Europa und in der Welt? Manche Nachbarländer fürchten eine starke Rolle Deutschlands, andere wünschen sie. Auch wir selbst schwanken: Weniger Verantwortung geht nicht länger, an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen.
    Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb die politische Denkerin Hannah Arendt: „Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten.“ Deutschland hatte Europa in Trümmer gelegt und Millionen Menschenleben vernichtet. Was Arendt als Ohnmacht beschrieb, hatte eine politische Ratio. Das besiegte Deutschland musste sich erst neues Vertrauen erwerben und seine Souveränität wiedererlangen.
    Vor wenigen Wochen, bei meinem Besuch in Frankreich, wurde ich allerdings mit der Frage konfrontiert: Erinnern wir Deutsche auch deshalb so intensiv an unsere Vergangenheit, weil wir eine Entschuldigung dafür suchen, den heutigen Problemen und Konflikten in der Welt auszuweichen? Lassen wir andere unsere Versicherungspolice zahlen?
    Es gibt natürlich Gründe, dieser Auffassung zu widersprechen. Die Bundeswehr hilft, in Afghanistan und im Kosovo den Frieden zu sichern. Deutschland stützt den Internationalen Strafgerichtshof, fördert ein Weltklimaabkommen und engagiert sich in der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschlands Beiträge und Bürgschaften helfen, die Eurozone zu stabilisieren.
    Trotzdem mehren sich die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern. In dieser Liste finden sich ein polnischer Außenminister ebenso wie Professoren aus Oxford oder Princeton. Ihnen gilt Deutschland als schlafwandelnder Riese oder als Zuschauer des Weltgeschehens. Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, ermuntert Deutschland, stärker für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik einzutreten. Er sieht Deutschland durchaus in einer Vorbildrolle.
    Es stellt sich tatsächlich die Frage: Entspricht unser Engagement der Bedeutung unseres Landes? Deutschland ist bevölkerungsreich, in der Mitte des Kontinents gelegen und die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Zur Stärke unseres Landes gehört, dass wir alle Nachbarn als Freunde gewannen und in internationalen Allianzen zum verlässlichen Partner wurden. So eingebunden und akzeptiert, konnte Deutschland Freiheit, Frieden und Wohlstand sichern. Diese politische und militärische Ordnung gerade in unübersichtlichen Zeiten zu erhalten und zukunftsfähig zu machen – das ist unser wichtigstes Interesse.
    Deshalb ist es richtig, wenn andere ebenso wie wir selbst fragen: Nimmt Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten und am südlichen Mittelmeer? Welchen Beitrag leistet Deutschland, um die aufstrebenden Schwellenmächte als Partner der internationalen Ordnung zu gewinnen?
    Und wenn wir einen ständigen Platz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben: Welche Rolle sind wir bereit, bei Krisen in ferneren Weltregionen zu spielen?
    Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen.
    Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Ich mag mir aber genau so wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen. Ein Land, das sich so als Teil eines Ganzen versteht, muss weder bei uns Deutschen auf Abwehr noch bei den Nachbarn auf Misstrauen stoßen."

Bei dieser Rede hat es mich an mehreren Stellen heftig geschüttelt. Weiß Herr Gauck, wovon er redet und wozu er Solidarität einfordert?

  • Werden wir nicht in wenigen Monaten die Beteiligung an einem Krieg in Afghanistan beenden, sicher eine der von Hern Gauck angemahnten „fernen Weltregionen“? Ohne dass wir ganz entfernt sagen könnten, dort seien nach 12 Jahren Krieg und - gemäß zurückhaltender Schätzung - nach mindestens 40.000 zivilen Toten auch nur die militärischen Ziele erreicht? Von den menschenrechtlichen, rechtsstaatlichen oder demokratischen Zielen ganz zu schweigen? Was überhaupt sind die lessons learnt? Die uns nicht wie einen Zauberlehrling in die nächste Patsche stolpern lassen?
  • Was sind die außen- und sicherheitspolitischen Erfolgsmodelle, denen sich Deutschland anschließen sollte? Z.B. der Irakrieg, der einen ganz und gar instabilen Staat zurückließ? Wo bleibt die unabhängige Evaluation aller bisherigen deutschen Einsätze nach Zielen, Nutzen und Lasten? Von UNOSOM II bis ISAF? Wie es vor jeder Wahl ganz selbstverständlich sein müsste?
  • Wann, wenn schon nicht im Wahlkampf, kommt die breite demokratische Debatte über Nutzen und Lasten der seit 1990 erweiterten Aufgaben in Gang? Und in deren Folge die rechtsstaatliche Festlegung und Begrenzung der Eingriffsrechte dieses Instruments der auswärtigen Gewalt, nach den bewährten Maßstäben von Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie? Eine Festlegung, die den historisch zentralen Art. 19 Abs. 1 i.V.m. insbesondere Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes beachtet? Die nicht gerade nicht mit rechtlich undefinierbaren und damit für die Bürger/innen nicht kalkulierbaren Schlagworten wie "Krise", "Konflikt" oder "Vorbeugung" operiert?
    Den Appell Joachim Gaucks verstehe ich zusammengefasst allerdings so: Gegenüber den nachvollziehbaren Forderungen unserer wackeren Bündnispartner müsse die Zeit der deutschen Ausflüchte, Debatten und kleingedruckten Vorbehalte nun aber mal vorbei sein.
  • Haben die französischen Freunde, die uns Deutsche so eindrucksvoll als ebenso larmoyant wie pflichtvergessen beschrieben hatten, ihm gleichzeitig erläutert, wie man dort Auslandseinsätze exekutiert? Nämlich im Kern durch die schon in blutigen Kolonialkriegen gestählte Fremdenlegion, die légion étrangère, so auch in Mali? Und wenn ja, hält er dies für ein Modell für die Weiterentwicklung unserer Bundeswehr?
  • Hält der Bundespräsident einen ständigen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, den Deutschland schon in den frühen Neunziger Jahren verfolgt hatte, tatsächlich für eine heute auch nur annähernd realistische Option? Gibt es nicht Länder oder sogar Kontinente, die vor uns an der Reihe wären?
  • Wann endlich werden die mehr als 30 hellsichtigen Fragen beantwortet sein, die der damalige Bundespräsident Köhler am 10. Oktober 2005 in seiner sehr bemerkenswerten Rede zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr gestellt hatte, zu den erweiterten Aufgaben und Zielen und zu deren Verankerung in der Bevölkerung?
  • Und weiß Bundespräsident Gauck, dass am Hindukusch – wenn man einmal genauer hinschauen wollte – tatsächlich die Söhne und Töchter Mecklenburg-Vorpommerns die Interessen der Landeskinder Baden-Württembergs verteidigen? Weil nämlich die Menschen aus den arbeitslosen Landstrichen Deutschlands bei der Bundeswehr signifikant überrepräsentiert sind? 
Gerade in Stuttgart und zum Tag der Einheit und als Mann aus den neuen Bundesländern hätte er vieles davon gerne ansprechen können und müssen - statt verblüffend unreflektiert und undifferenziert in den Singsang von einem deutschen Verantwortungs-Defizit einzufallen. Vielleicht wusste er es aber auch einfach nicht; die von ihm zitierte Hannah Arendt hätte mehr davon verstanden und abgewogener geurteilt. 

Zum Vergleich hier noch ein Auszug aus der oben bereits angesprochenen Köhler-Rede vom 10.10.2005. Für mich hatte ihn dieser Beitrag zu einem der weitsichtigen Bundespräsidenten qualifiziert - und sein Auftrag an Parlament, Regierung und Parteien ist bis heute nicht eingelöst, wurde es insbesondere auch nicht im Wahlkampf 2013:


"… Mich macht nachdenklich: Die Bundeswehr wird von einer Selbstverteidigungsarmee umgebaut zu – was eigentlich? Zu einer Armee im Einsatz? Zu einer Interventionsarmee? Der Deutsche Bundestag stimmt mehr als vierzig Mal dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland zu; aber die Deutschen wirken von all dem kaum berührt oder gar beeindruckt.
… Zugleich fördert es die Fehleinschätzung, Soldaten seien eine Berufsgruppe wie andere, und wenn sie freiwillig im Ausland unterwegs seien, dann auf eigene Gefahr und außerdem ja auch zu höheren Tagessätzen. Auch das Bedrohungsgefühl hat sich auseinander entwickelt: Früher drohte den Bürgern in Zivil und den Bürgern in Uniform dieselbe Kriegsgefahr, heute scheinen die Heimat friedlich und die Einsatzorte der Bundeswehr weit.
… Wenn die Deutschen so wenig vom Ernst des Lebens wissen, auf den die neue Bundeswehr eine Antwort ist, dann werden sie nur schwer einschätzen können, welchen Schutz die neue Sicherheitspolitik verspricht, welche Gefahren sie möglicherweise mit sich bringt, ob der Nutzen die Kosten wert ist und welche politischen Alternativen Deutschland und die Deutschen bei alledem eigentlich haben. Das müssen sie aber einschätzen können, damit sie die nötige demokratische Kontrolle ausüben können, damit sie innerlich gewappnet sind für die kommenden Herausforderungen und damit sie den Dienst ihrer Mitbürger in Uniform zu schätzen wissen und aus Überzeugung hinter ihnen stehen.
Darum wünsche ich mir eine breite gesellschaftliche Debatte - nicht über die Bundeswehr, sondern über die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes.

Diese Debatte braucht klare Analysen, welche deutschen Interessen es zu schützen und zu fördern gilt, vor welchen Herausforderungen und Bedrohungen wir dabei stehen, auf welche Ressourcen wir zählen können, wie wir vorgehen und welche Rolle dabei die Bundeswehr übernimmt. Vor allem der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und die politischen Parteien sind gefordert, eine solche Gesamtschau zu entwickeln und den Bürgern vorzustellen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, denn wo es um die Lebensinteressen unseres Landes geht, da muss ein Konsens der Demokraten möglich sein. Es gibt auch genügend gute Vorarbeiten, von früheren Weißbüchern der Bundeswehr über die aktuellen strategischen Konzepte befreundeter Nationen und der NATO bis hin zur Europäischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003. Alle diese Dokumente können uns helfen, unseren Standort, unsere Ziele und den weiteren Weg zu bestimmen, aber keines kann diesen Akt der Selbstbestimmung ersetzen. Ein solches Gesamtkonzept der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist natürlich keine Erfolgsgarantie, aber es klärt den Blick, es erlaubt den sachlichen Vergleich mit den Interessen anderer Staaten und Organisationen und es würde auch von unseren Partnern und Freunden begrüßt werden, die mit Recht wissen wollen, worauf sie von unserer Seite zählen können. Es schafft Vertrauen, wenn bei uns offen über die deutschen Interessen debattiert wird; denn dann braucht niemand zu argwöhnen, wir hielten unsere Absichten verborgen. …"

Und zu guter Letzt lasse ich Klaus Kinkel zu Wort kommen, unseren ehemaligen Außenminister, und zwar zu der Frage, wie und warum er schon im Jahre 1993 die Bundeswehr aus dem Wahlkampf heraushalten wollte. Und dabei zeigt und bestätigt sich schon früh das auch im aktuellen Wahlkampf wiedererkennbare Muster: Es sind eben nicht die bottom-up-Impulse der Bürger/innen und Wähler/innen, die die Außen- und Sicherheitspolitik gestalten. Es ist die besondere Gruppendynamik hochgestellter Gremien, die im Grunde aber ähnlichen Gesetzen folgt wie jede Kleingruppe, wie am Ende auch eine Stadtteil-Gang. In diesen Zirkeln fordert man Solidarität ein und formt eine typische Binnen-Moral aus, die des solidarischen Mitmachens, des do ut des bzw. des "Man kennt sich, man hilft sich". Bezieht man die passenden Köpfe ein, so lassen sich im Kern individuelle Bewegungen und Emotionen wie mit einem Storchenschnabel oder Pantographen auf den Maßstab eines Staates übertragen - und manche mögen das sogar als große Staatskunst feiern:
"... Ich möchte wirklich ungern mit diesem Thema in 20 Wahlkämpfe gehen, weil das Deutschland schadet. Und das sagt der Außenminister, der ja in der Praxis täglich verhandeln muss und sieht, wie sehr wir nach diesem Themenkreis gefragt werden, nicht weil wir Außenpolitik militarisieren wollen, sondern einfach deshalb, weil von uns erwartet wird als 80-Millionen-Volk, dass wir wie andere auch uns an der Friedenssicherung beteiligen."

Das erinnert mich doch sehr an die ganz oben von Joachim Gauck zitierte Anekdote: Das Souvenir seiner Frankreich-Reise, das ihn offenbar weiter stark beschäftigt. So sehr, dass er es nun zum Schwerpunkt seiner erste Einheitsrede verarbeitet hat. Hans Köhler steht mir näher. Er stand mir jedenfalls mit seinen offen gestellten Fragen bei seiner oben zitierten Rede auf der Kommandeurtagung 2005 näher als Joachim Gauck mit seinen am am Tag der Einheit prinzipiell alternativlos formulierten Ableitungen und Forderungen, mit dem Ziel einer ambitionierteren Außen- und Sicherheitspolitik mit tendenziell wachsendem Einsatz auch der Bundeswehr.