Samstag, 15. August 2015

Mannheim, Hiroshima, Kundus



Fortgeschrittene Teleskope liefern mehr und mehr Hinweise auf Verwandte unseres Planeten in anderen Sonnensystemen; einige davon stuft die Forschung gar als noch stabilere, noch fruchtbarere „Super-Erden“ ein. Wenn aber solche Inkubatoren im Kosmos eher die Regel zu sein scheinen als die Ausnahme, wo um alles in der Welt sind sie dann, die klugen Bewohner dieser Welten – oder zumindest ihre Lebenszeichen? Die gerade wegen Hiroshima und Nagasaki immer überzeugendere Antwort stimmt nicht eben optimistisch: Technische Zivilisationen löschen sich mit einer in ihrer Entwicklung zunehmenden Wahrscheinlichkeit selbst aus. Deswegen dürfen wir Sunao Tsuboi und seine Lebenszeichen nicht schnell vergessen.

Schuld?
Über eine Schuld an der letzten Eskalation des Pazifikkrieges richten zu wollen, das scheint 70 Jahre nach den fatalen, in ihrer Dimension gar nicht fassbaren Ereignissen fast ausgeschlossen. Waren Hiroshima und Nagasaki überhaupt noch Element des Pazifikkrieges oder doch schon eines heraufziehenden oder wieder aufgelebten Ost-West-Gegensatzes? Waren die Bomben dual use, nämlich ein kurzer Prozess für Japan und der gleichzeitige Versuch, den unkalkuliert weiten Vorstoß des alten und neuen Angstgegners „Bolschewismus“ in Europa und Asien wieder einzudämmen? Diese Deutung ist für mich noch am wahrscheinlichsten.
Zur menschlichen Dimension: Den Angriff vom 6.8.1945 auf weit mehrheitlich Zivilisten, auf Männer wie Frauen und Kinder und Greise in einer zuvor strategisch ausgeklammerten Großstadt, man kann ihn als gezielte, nach den Definitionen unseres Strafrechts auch heimtückische Vivisektion einer Kommune werten.

Projektinternes Waffenrennen: gun- vs. implosion-type, Ur vs. Pu
Am allerwenigsten verständlich erscheint der am 9.8.1945 unmittelbar nachfolgende Angriff auf Nagasaki – wenn man ihn nicht als eine banale Genugtuung für die rivalisierende Pu- bzw. Implosions-Arbeitsgruppe in Los Alamos deutet. Deren grundlegend anderes Bomben-Design war zwar am 16.7.1945 schon im geheimen Trinity-Test, aber eben noch nicht wie in Hiroshima unter Feldbedingungen zum Zuge gekommen, gleichsam am lebenden Körper. „Gewonnen“ hat dieses bizarre Turnier übrigens die Uran-Fraktion. Zwar war die Sprengkraft der Plutonium-Bombe „Fat Man“ mit ca. 21 Kilotonnen TNT-Äquivalent fast doppelt so hoch wie das der Uran-Bombe „Little Boy

Zwischenbemerkung zu den nicknames der Bomben: „Fat Man“ erklärt sich als Gegensatz zu dem zwischenzeitlich aufgegebenen „Thin Man“-Design, einer schlanken, langgezogenen Mischkonstruktion aus dem sogenannten gun-type „Little Boy“ (= kritische Masse durch Einschuss eines noch fehlenden Teils des nuklearen Sprengstoffs) und dem eher sphärischen, sogenannten implosion-type „Fat Man“ (= Spaltstoff sollte wie bei „Fat Man“ Plutonium sein), die aber entweder zu lang für die B52-Bombenschächte oder im Verlauf der Kettenreaktion zu unberechenbar geworden wäre. „Little Boy“ – übrigens die wegen des aufwändigen Isotopentrennverfahrens einzige jemals fertiggestellte amerikanische Uran-Bombe – wird allgemein als Anspielung auf Roosevelts eher zarten Körperbau gedeutet. Der Sprengkörper des Trinity-Tests und Zwillingsbruder von „Fat Man“ war „Gadget“ getauft worden, also sinngemäß „Apparat mit überraschenden / beindruckenden Eigenschaften“.

Zurück zum death toll: Wegen des zwischenzeitlich eingetrübten Wetters wurde das Zentrum von Nagasaki um einige Kilometer verfehlt und die Zahl der direkten und indirekten Opfer blieb geringer, wenn auch noch immer apokalyptisch. Gerade der Wetterwechsel hatte den vom Militär vor Ort entschiedenen zweiten Einsatz ausgelöst, mit einiger Wahrscheinlichkeit auch in Sorge um eine Kapitulation Japans, die für den Auftritt der Bombe „Fat Man“ zu rasch gekommen wäre.

Sie wussten nicht, was sie taten ?!
Waren die Bomben vielleicht grausamer und tödlicher als zu erwarten, insbesondere was ihre Langzeitwirkung wegen ionisierender Strahlung angeht?
Eigentlich nicht, auch wenn dies von führenden Beteiligten des Manhattan-Projekts so dargestellt wurde, etwa: Die gegenteiligen Berichte der Japaner nach Hiroshima wären schlichte Propaganda. Die Atombombe sei im Grunde eine konventionelle Waffe mit lediglich deutlich höherer Sprengkraft. Sie sei darum etwas prinzipiell anderes als die nach den Gräueln des ersten Weltkriegs geächteten Chemiewaffen.

Tatsächlich hatte aber schon das Frisch-Peierls-Memorandum vom März 1940, das vor einer möglichen deutschen Atombombe gewarnt hatte und damit grundlegend für die späteren Anstrengungen der Alliierten wurde, sowohl den möglichen taktischen Einsatz als auch die daraus folgende menschliche Katastrophe bewundernswert exakt vorausgesagt: „The blast from such an explosion would destroy life in a wide area. The size of this area … will probably cover the center of a big city. … The effect of these radiations is greatest immediately after the explosion, but it decays only gradually and even for days after the explosion any person entering the affected area will be killed.“ Recht genau so kam es. Eine der Schlussfolgerungen aus dem Memorandum ist angesichts der weiteren Entwicklung höchst bemerkenswert (Unterstreichung von mir): „Owing to the spread of radioactive substances with the wind, the bomb could probably not be used without killing large numbers of civilians, and this may make it unsuitable as a weapon for use by this country. (Use as a depth charge near a naval base suggests itself, but even there it is likely that it would cause great loss of civilian life by flooding and by the radioactive radiations.)“ Auch die beiden Berichte der britischen MAUD-Kommission vom 15.7.1941 zu den Potentialen und Risiken militärischer und ziviler Nutzung der Kernenergie hatten warnend auf die Strahlenwirkung aufmerksam gemacht.

Die gesundheitsschädliche Wirkung ionisierender Strahlung und gerade auch der tückische Langzeit-Effekt waren i.J. 1945 durchaus belegt und bekannt; sie waren längst sogar im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Die prominente Atomforscherin und Nobelpreisträgerin Marie Curie war infolge ihres jahrelangen ungeschützten Umgangs insbesondere mit Radium – sie trug es teils am Körper und liebte das milde Glimmen auf ihrem nächtlichen Schreibtisch – an Blutkrebs gestorben. Einiges Aufsehen hatte das Leiden und jämmerliche Sterben einiger sogenannter „Radium girls“ in den Dreißiger Jahren erregt; dies waren junge Frauen, die in dem Radium-Hype der Zwanziger und Dreißiger Jahre z.B. Zifferblätter von Uhren mit dem strahlenden Isotop bemalten. Auch in der Medizin gab es bemerkenswerte Vorfälle wie etwa Berichte über einen Mann, der sich über Jahre ein Radium-Präparat oral verabreicht hatte und an den Folgen gestorben war, siehe dazu neben einigen weiteren Fallbeispielen aus verschiedenen Epochen hier. Ferner: Das Manhattan-Projekt selbst umfasste ein anspruchsvolles Teil-Projekt mit strahlenmedizinischer Aufgabenstellung, das allerdings nicht auf die schädlichen Wirkungen des Waffeneinsatzes, sondern auf die etwaige Gefährdung von Mitarbeitern und bei Tests fokussierte. Ganz bemerkenswert scheint auch: Im Zusammenhang mit dem Trinity-Test war eine primäre Sorge der Verantwortlichen, dass die Kontamination der Umgebung zu ruinösen lawsuits amerikanischer Anwälte (!!!) führen könnten. Zu Klagen kam es aber offenbar nicht, wenn es auch signifikante Auswirkungen gab, etwa strahlengeschädigte Weidetiere und – ein erstaunlicher und von den Betroffenen damals sogar richtig gedeuteter Einzelfall – Schäden an Kodak-Fotomaterial, auf das Partikel des Fallout eingewirkt hatten. Anm.: Besondere Störfälle wie die späteren letalen Unfälle mit dem berüchtigten „demon core“ hat es wohl vor Hiroshima nicht gegeben, zumindest sind sie nicht öffentlich dokumentiert; insoweit scheint das genannte Begleitprojekt also höchst erfolgreich verlaufen zu sein, siehe auch diesen ausführlichen Bericht des LAHDRA-Projekts (Los Alamos Historical Document Retrieval and Assessment).

Die durchaus möglichen und sogar naheliegenden Entscheidungsgrundlagen um die verheerende Strahlungswirkung der Bomben haben aber zumindest die politischen Entscheidungsträger wohl nicht erreicht. Robert Oppenheimer, der auf die Lösung eines „sweet problems“ konzentrierte wissenschaftliche Leiter des Manhattan- Projekts, hat sich darum, wie man heute sagen würde, „schlicht keinen Kopf gemacht“. Lesley Groves, der militärisch-administrative Kopf, der sich gerne damit brüstete, von Nuklearforschung mehr zu verstehen als jeder Forscher, er hat sich eine letale Strahlung nicht einmal annähernd vergegenwärtigt: Nach vorherigem (!) Bekunden wäre er sogar unmittelbar nach dem Abwurf forsch und stramm in die Explosionszone vorgerückt, mit Fahrzeugen oder, wenn nötig, auch zu Fuß. Oppenheimer und Groves haben damit im Vorfeld als effiziente Filter gewirkt, sowohl für die Vorstellungswelt von Kriegsminister Henry Stimson als auch des gerade frisch berufenen und mit dem Projekt überhaupt nicht näher vertrauten Präsidenten Harry Truman; die entsprechenden aktuellen Herleitungen von Sean Malloy und im folgend Alex Wellerstein sind m.E. sehr schlüssig, siehe auch die damit im Einklang stehende Einschätzung von Craig Malloy zur Rolle von Stimson.

Alle Projekt-Beteiligten einschließlich des leitenden Manhattan-Strahlenmediziners Stafford Warren hatten auch ungläubig bis vorwurfsvoll auf erste Nachrichten aus Japan über unheimliche Krankheitsverläufe von Überlebenden reagiert, die sich erst zu erholen schienen und dann doch nach Tagen oder noch Wochen unrettbar verfielen. Alles das sei nur Propaganda, sie bezichtige wahrheitswidrig Amerika eines nur durch unfaire Kriegsführung erzielten Sieges und wolle über die Manipulation der öffentlichen Meinung angenehmere Waffenstillstands-Konditionen herausholen. Lt. Wellerstein hat Lesley Groves noch Ende November 1945 in einer Anhörung des nach dem Krieg formierten Special Senate Committee on Atomic Energy eine apologetische, geradezu romantisierende und heute schockierende Ausdrucksform für den Strahlentod gefunden: „In fact, they say, it’s a very pleasant way to die.“ Unabhängige westliche Berichterstattung von den Orten der Waffenwirkung wurde nach Möglichkeit unterbunden, z.B. der kritische Gericht des Journalisten George Weller, auch damalige Fotodokumente blieben unter Verschluss. Wer allerdings heute das VN-Gebäude in New York besucht, kann dort ein paar eindrucksvolle Relikte der Waffenwirkung finden, etwa seltsam krumm zusammengeschweißte Türmchen aus Münzen oder verformte Glasflaschen, wie man sie vorher nur auf Bildern Dalis erwartet hätte.

Wird fortgesetzt, u.a. zu diesen Fragen:
-        Wer hat über das Abwerfen der Atombomben auf Hiroshima und in Nagasaki entschieden und wie?
-        Ausgangspunkt des Manhattan-Projekts war die Angst vor einer deutschen Atombombe? Waren auch deutsche Städte als primäre Einsatzziele bestimmt?
-        Was hat Kundus mit alldem zu tun?