Karl Ernst Thomas
de Maizière – das ist der frühere und heutige Innenminister, frühere
Verteidigungsminister, auch mal Chef des Kanzleramts – der hat Ende April seine
Thesen zur deutschen Leitkultur veröffentlicht und wollte damit eine gesellschaftliche
Debatte anstoßen, vielleicht auch punkten bei allen denjenigen, die ohnehin
meinen, die Fremden oder das Fremde bei uns werde längst zu frech, sei auch
Ursache der meisten Übel und Konflikte.
Was ist nun eigentlich eine (deutsche)
Leitkultur bzw. was könnte dazu gehören? Oder auch: Wer könnte wie an ihr
teilhaben? Protestanten eher in Hamburg als in Bayern? Flüchtlinge nach
gehörigen Tests und nur, wenn wir sie konkret brauchen – also Migranten-Nützlinge,
eher nach Vollendung akzeptierter Berufswege, weniger die Jugendlichen? Gehören Bauten
eher mit einem Kreuz darauf dazu wie bei dem gerade wieder auferstehenden Berliner
Stadtschloss?
Der ursprünglich von dem Politologen Bassam Tibi eingeführteBegriff „(europäische) Leitkultur“ hat eine wechselvolle
Geschichte, de Maizières nunmehriger Vorstoß knüpft – auch hinsichtlich
seiner Durchschlagskraft – an diverse Vorläufer an. Wenn Leitkultur eine Essenz dessen
ist, was die Eliten einer Gesellschaft ihren Schutzbefohlenen zum besseren
Zusammenhalt, zur gehobenen Stimmung oder zur leichteren Abgrenzung verschreiben,
dann müsste auch Feinstaub – oder dessen
klagloses Ertragen – dazu zählen. Denn Feinstaub gehört offenbar bis auf
Weiteres in die Mitte unserer Städte und Lungen. Ein Fahrverbot für
Dieselantriebe in Fahrzeugen jeder Art – undenkbar! Exkurs: Dass Dieselruß
insbesondere in Ballungsräumen Gesundheitsrisiken verursachen kann, ist seit
Jahrzehnten bekannt. Dennoch gab es über die Jahre immer wieder staatliche
Kaufanreize wie Steuervergünstigungen. Ich bekenne, selbst mal einen auch
wunderbar sparsamen und langlebigen Citroen AX besessen zu haben (50 PS bei
unter 800 kg Gewicht, Verbrauch ca. 4 Liter!!!); er war wegen seines
Oxydations-Katalysators tatsächlich zeitweise steuerbefreit. Meine damalige Begeisterung, aber auch
mein wegen des Dieselruß angestrengtes Gewissen kann man hier noch etwas nachleben. Weiterer
Exkurs: Auf einer Umweltmesse hatte ich damals Verantwortliche für die
Motorenentwicklung von Volkswagen gesprochen und mich insbesondere nach Fortschritten bei der
Abgasreinigung erkundigt. Nein, Filtertechniken wie die damals von Peugeot zur
Serienreife entwickelte F.A.P.- Technologie verfolge man nicht – man setze auf
optimierte Motorensteuerung, die die Menge und Größe ausgestoßenen Rußes unter das
messbare Maß vermindere. Anm.: Bereits damals war die Problematik dann
lungengängiger, sehr feiner Stäube – Ultrafeinstaub – durchaus bekannt.
Aber nun im Ernst:
Feinstaub-Toleranz gehört natürlich nach keiner Definition zur Leitkultur, allerhöchstens
indirekt, wenn man annimmt, das jedenfalls eine technokratische
Grundausrichtung Teil der Leitkultur ist, die wiederum die Risiken einer
kompetitiven technologischen Entwicklung bereits als naturgegeben ansieht und als in diesem
System alternativlos in unser Leben eingepreist hat. So wie über Jahre das Passivrauchen als eine Art gesellschaftlicher
Pflicht gelehrt wurde: Während meines Studiums in den Siebziger Jahren bekam
ich von der Universitätsbücherei meine Ausleihen regelmäßig und geschmeidig in
eine Plastiktüte gelegt, in der sich schon eine kleine Broschüre des Verbandes
der Cigarettenindustrie befand, und nach deren einschmeichelndem Inhalt
waren die Risiken des Passivrauchens nichts als völlig unbewiesene, böswillige
Unterstellungen.
Wenn schon nicht der Feinstaub und
auch nicht mehr das Passivrauchen, was könnte denn wirklich im aktuellen Warenkorb
der „Leitkultur“ liegen? Lothar de Maizière hat ja schon eine Menge content definiert: Namen nennen, Hand geben, Allgemeinbildung haben, Leistung
bejahen, nationale Geschichte zugeben, klassische Kultur pflegen, religiöse
Toleranz staatlich fördern, gewaltfrei leben, das eigene Land lieben, ohne dafür
andere zu hassen, im Zweifel nach Westen blicken, gemeinsame Erinnerungen,
Stätten und Brauchtum wie Brandenburger Tor, den Brand der Synagogen, die
Fußballweltmeisterschaft und den Karneval bewahren. Aber da gehört sicher noch mehr und anderes in die nähere Wahl:
Gehört Barmherzigkeit dazu, das gegenseitige
Grüßen, ein Atlantik voller Cola oder überhaupt der omnipräsente Konsum, Export und das Wirtschaftswachstum
der Industrienationen? Zählt die responsibility to
protect (R2P) darunter oder weitergehend der militärische Eingriff zur
Wahrung wohlverstandener Interessen, etwa auch zum Schutz der Rohstoff- und
Absatzwege? Ggf. eine globale Politik der
offenen Türe – mit der wir uns schon mal den ewigen Spitznamen „Hunnen“ verdient hatten? Über
alles das und noch viel mehr kann man trefflich und endlos streiten. Im Grunde
geht es wie beim MHC
eben einfach darum: Was gehört dazu und was nicht? Oder in unserem Fall genauer: Was und wer
soll aus der Sicht des jeweiligen
Diskutanten dazugehören? In Zeiten der selbst postulierten Globalisierung wird
diese Frage sinnloser und sinnloser – es sei denn, man nutzt sie, um ein wenig
scheinheilig Fremdenfurcht zu transportieren.
Nachtrag: Aus einem gewissen
Blickwinkel hat Thomas de Maizière allerdings eine besondere Expertise für die
aufgeworfene Fragestellung. Ist er doch ein ausgewiesener Kenner auch fremder
Kulturen, die er noch als Verteidigungsminister in ihren angestammten
Lebensräumen besuchte. So am Sonntag, dem 6. Oktober 2013, als er feierlich den
Afghanen den
Schlüssel für das Feldlager Kundus übergab. In seine Rede,
die unter dem o.g. Link auch noch heute auf Englisch, Dari und Paschtu
verbreitet wird, hatte er feinsinnig afghanisches Erzählgut eingewirkt; ganz sicher
war dies das Ergebnis seiner eingehenden Durchforschung der am Hindukusch
obwaltenden Leitkultur. Es war die Erzählung vom schlauen alten Bäuerlein
(oder vom klugen Herrn de Maizière), das seinen tumben Söhnen noch eine abschließende Lehre erteilen konnte.
Das alten Bäuerlein verbreitete die Mär, im bald zu vererbenden Acker wäre ein Schatz
verborgen. Sogleich wühlten die sonst eher morgenländisch-fatalistischen
Nachkommen in ungestümer Konkurrenz den Boden um. Sie fanden nichts und bemerkten
erst später, dass der so umgegrabene und belüftete Acker nun höchst erfreuliche
Früchte ihrer ungewollt gemeinschaftlichen Arbeit trug (Zusammenfassung des Blog-Autors).
Der damit zu transportierende pädagogische Sub- oder Meta-Text sollte wohl
sein:
Trotz meiner unermüdlichen Bemühungen sieht es bei euch immer noch trostlos
und gottverlassen aus. Aber wenn ihr euch hier nun mal endlich richtig reinhängt – und mir nicht
etwa nach Deutschland nachreist – dann wird das schon was, ganz sicher!
Und flugs nahm er sein launig-lappiges
tarngeflecktes Käppi ab, stieg in den Dienstflieger, wurde vom Krisenreaktions-Minister mal wieder zum Innen- und damit auch Wanderungs- und
Aufenthaltsminister und konnte von Stund an noch besser regeln, wer oder was hierzulande
dazugehört, hier, wo wir alle Krisen heldenhaft fernhalten.Weswegen wir die heute so allfälligen Krisen frühzeitig und möglichst fern von uns vor Ort im Keim ersticken.
Dass an den Orten, an denen Deutschland
und/oder seine westlichen Bundesgenossen militärisch oder diplomatisch-destabilisierend eingegriffen haben, in der
Folge nur sehr, sehr wenig Fruchtbares wuchs, insbesondere keine tragfähigen, krisenfreien Staatswesen,
dass von dort gut vorhersagbare Fluchtbewegungen ausgehen, die man auch als heimkehrende collateral damages oder als Bumerang-Krisen verstehen darf, darüber hat Thomas de Maizière, soweit mir bekannt, bisher noch nicht öffentlich sinniert. Aber mit seiner hübschen These von der klassischen Bildung als
einem wesentlichen Teil der Leitkultur könnte er ja auch z.B. Goethens Zauberlehrling
mitgemeint haben, vielleicht sogar die kongeniale Adaption durch
den guten alten Walt. Das wäre dann sogar die klassische Bildung, vermittelt durch Westbindung. Und eine wirklich wirkmächtige Leitkultur.
MfG
Dr. jur. Karl Ulrich Voss
MfG
Dr. jur. Karl Ulrich Voss
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