Dienstag, 23. Mai 2017

Wehrpflicht – Parlamentsarmee vs. Bürgerarmee



Derzeit scheint ein Bundeswehrskandal dem anderen die Türe in die Hand zu geben; viele rufen nach einer Erneuerung der Wehrpflicht. Aber das wäre aus meiner Sicht nur die halbe Miete – es geht um nichts weniger, als die Aufgaben der Bundeswehr wieder in der Mitte der Bürger/innen zurückzutragen; die Kernaufgaben der Bundeswehr müssen wieder unsere Kernaufgaben werden. Sonst würde es bei den vielen robusten Bewerbern für robuste Missionen bleiben müssen:
Von einer reanimierten Wehrpflicht das Ende aller Bundeswehrskandale zu erwarten, das wäre ein realitätsfernes Überschätzen. Das Problem liegt anders, es hat dennoch mit der Wehrbeteiligung, eigentlich mit der Kernaufgabe „Wehren“ zu tun. Bereits 1993 warnte eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr davor: Unsere Armee werde „zunehmend für junge Männer attraktiv, die den demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind“. Und da faktisch eine Situation bestehe, die für Wehrpflichtige die Wahlfreiheit eröffne, nämlich ‚zum Bund’ oder ‚Zivi’, sei damit zu rechnen, dass „auch die anstehenden Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potential in die Bundeswehr tragen werden“. Das Problem der Attraktivität für Modernitätsverlierer stelle sich aber nicht nur für die Wehrpflichtigen, sondern auch und gerade für die Freiwilligen. Daher werde man bei dem damals bereits diskutierten Übergang zum Freiwilligensystem „hier unter politischer Perspektive besondere Umsicht walten lassen müssen.“

Zitate aus:
Heinz-Ulrich Kohr, RECHTS ZUR BUNDESWEHR, LINKS ZUM ZIVILDIENST? ORIENTIERUNGSMUSTER VON HERANWACHSENDEN IN DEN ALTEN UND NEUEN BUNDESLÄNDERN ENDE 1992 (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März 1993) = http://www.mgfa-potsdam.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID=92bb8
Tatsächlich aber verkümmerte die Anziehungskraft für Bewerber aus der bürgerlichen Mitte schon Mitte der Neunziger Jahre in dem Maße rapide weiter, in dem das Aufgabenspektrum und auch das Einsatzgebiet der Bundeswehr grenzenloser und unkonturierter wurden. Dies war auch abzulesen an den zwischenzeitlich herausgegebenen Weißbüchern und verteidigungspolitischen Richtlinien, die im Rahmen der „inneren Führung“ immer weniger strukturier- und vermittelbar gerieten.
Wenn wir auf dem Weg zur Bürgerarmee weiterkommen wollen, dann müssen wir die Aufgaben der Bundeswehr endlich offen gesellschaftlich debattieren, gerade im anstehenden Wahlkampf und mit allen Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre, dabei auch den Zusammenhang zwischen Auslandseinsätzen, Destabilisierung und Flucht ausleuchten. Dabei könnten wir zu Zielen zurückfinden, mit denen sich die bürgerliche Mitte nun wieder aktiv identifizieren kann – etwa das Wehren bzw. die Verteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff im bis 1990 allgemein geltenden Verständnis. Eine wiederbelebte Wehrpflicht kann bei einem stärkeren Verwurzeln der Bundeswehr im Bürgertum helfen. Garantieren kann sie das nicht, insbesondere nicht als isoliertes und symbolhaftes Projekt.

MfG
Dr. jur. Karl Ulrich Voss

P.S.:
Zur Vervollständigung und näheren Begründung meiner Position: Vier meiner Leserbriefe zur Außen- und Sicherheitspolitik und ihrer nach fünfundzwanzig Jahren Praxis noch immer ausstehenden öffentlichen Debatte, wie sie im Habitat deutscher Politiker veröffentlicht wurden – zwei aus der Zeit vor, zwei aus der Zeit nach Aussetzen der Wehrpflicht; mehr bei Bedarf unter http://www.vo2s.de/mi_leser.htm.

(123) 27.3.2015
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 10.4.2015
Bundeswehr-Spezialkräfte; Christoph Hickmann, „Hart an der Grenze“ (Süddeutsche Zeitung v. 24.3.2015, S. 3)
   Aufständische Terroristen und Spezialkräfte bilden gemeinsam ein perpetuum mobile der auswärtigen Gewalt: Wo Kriege nicht mehr erklärt werden, wo Kriegsgründe diffuser und letztlich eigennütziger werden, wo Einsatzkräfte zunehmend ohne Parlament und Bürger auskommen, da ist die zivile Geisel oder ist der Anschlag im öffentlichen Raum das zynische, aber letztlich konsequente Mittel der Wahl. Remedur ist dann der nicht mehr konventionelle Kampfstil, den Spezialkräfte nochmals weiter entfernt von der bürgerlichen oder parlamentarischen Kontrolle gelehrt bekommen und ausüben. Die im Beitrag beschriebene Auswahl und Ausbildung, das elitenhafte Selbstverständnis und die nach außen abschottende Kameradschaft – sie unterscheiden sich von Chris Kyles biografischen Eindrücken („American Sniper“) nur graduell, aber nicht grundsätzlich.
   In Grunde reden wir von „German snipers“ und genau von dem, vor dessen Giftwirkung Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ mit guten Gründen gewarnt hatte: Vertrauenswidrige Strategien wie Meucheln und Giftmischen, die dann jedem nachhaltigen Frieden entgegenstehen. Mindestens ebenso fatal ist die zersetzende Wirkung für den Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie – wenn nämlich fundamentale Rechte ohne konkrete Eingriffsgrundlage verletzt werden und selbst die Parlamentskontrolle nicht greift. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner 2008er Entscheidung zur Beteiligung an der Luftsicherung der Türkei warnend auf mögliche „Eigengesetzlichkeiten der Bündnissolidarität“ hingewiesen und darauf, dass die Mitwirkung des Bundestages nicht „im Lichte exekutiver Gestaltungsfreiräume oder nach der Räson einer Bündnismechanik“ bestimmt werden dürfe, sondern „im Zweifel parlamentsfreundlich“, auch wegen des immanenten „politische(n) Eskalations- und Verstrickungspotenzial(s)“. In einer folgenden Anhörung des Bundestages am 25.9.2008 haben sodann alle beteiligten Experten die stark beschränkte Information über den Einsatz von Spezialkräften im Wege des eingefahrenen sogenannten Obleuteverfahrens als nicht rechtmäßig und als korrekturbedürftig eingeschätzt. Verändert hat sich danach nichts. Beim Drama am Kundus am 4.9.2009 war die Task Force 47 an der verhängnisvollen Entscheidung zur Bombardierung der Tanklaster beteiligt.
   Wichtig scheint mir: Fast jeder führt hier geradezu instinktiv Geheimhaltung ins Feld – um die jeweiligen Operationen und eben auch die Beteiligten selbst zu schützen. Aber Geheimhaltung isoliert die Menschen in Spezialkräften auch vor genau dem Schutz, den ihnen das „Parlament des Heeres“ schuldet, und fördert gerade jenen einigelnden Komment und ein verqueres Verständnis von Professionalität und Leistungsbeweis. Transparenz wäre jedenfalls in der Rückschau gefahrlos möglich und ein demokratischer Mehrwert. Um nochmals Kants „Ewigen Frieden“ zu zitieren: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht."

Quellen:
Die Kant-Zitate stammen aus "Zum Ewigen Frieden" (2. Auflage 1796), 6. Präliminarartikel (Reclam-Ausgabe S. 7f) und Anhang II. (Reclam S. 50), siehe ansonsten http://philosophiebuch.de/ewfried.htm
Bundesverfassungsgericht v. 7.5.2008, Az. 2 BvE 1/03 (Beteiligung an der vorsorglichen Luftüberwachung der Türkei gegen mögliche Angriffe aus dem Irak): http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2008/05/es20080507_2bve000103.html
Oben zitierte Anhörung des Bundestages am 25.9.2008 u.a. zur parlamentarischen Kontrolle von Spezialkräften:
http://www.vo2s.de/mi_pbg-anh.htm (Dokumentation incl. Protokoll); http://www.vo2s.de/mi_pbg2008_drs_16-G-27_voss.pdf (Gutachten des Verfassers dieses Leserbriefs)
Das Obleute-Verfahren findet sich kurz beschrieben in dieser Antwort der Bundesregierung 14.11.2014 auf eine parlamentarische Anfrage (S.54):
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/032/1803215.pdf
(91) 24.8.2010
Frankfurter Allgemeine Zeitung, abgedruckt 4.9.2010
Bundeswehr-Reform u. Aussetzen der Wehrpflicht; Berthold Kohlers Leitglosse "Rückzugsgefechte" (F.A.Z. v. 24.8.2010, S. 1):
   Hat da jemand die Wehrpflicht verzockt und nebenbei den Markenkern der Christdemokraten? Ganz neu ist die Reform-Tendenz ja nicht: Seit 1990 sehen wir die Bundeswehr - und die NATO - in einer kontinuierlichen Findungsphase, auf den verschiedensten Konfliktfeldern und mit ständig runderneuerten und teilweise entschlackten Organisationsformen und Rüstungen. Längst verfügen wir Deutschen wieder über Kriegsschiffe, die Landziele bekämpfen können, und über durchtrainierte Eingreiftruppen. 'Kanonenboote' und 'Expeditionskorps' sagte man dazu um die vorletzte Jahrtausendwende herum, etwa beim kolonialen Niederringen des Boxeraufstandes. Bald lohnt wohl wieder, Kaiser Wilhelms damalige 'Hunnenrede' nachzulesen.
   Erfolgsmeldungen der neuen ambitionierten Außen- und Sicherheitspolitik sind dagegen rar, am ehesten noch bei der blitzartigen "Operation Libelle". Warum wir uns dann schon wieder auf neue martialische Herausforderungen einstellen sollen, dabei die profilgebende und zu den Abgeordneten rückkoppelnde Wehrpflicht über die Planke jagen müssen und letztlich eine neue Republik einläuten, all das bleibt mir ehrlich gesagt völlig unklar. "Volenti non fit iniuria!" oder "Berufssoldaten kann man alles antragen!"? Das sollte es eigentlich nicht sein. Geht's dann bei der Reform tatsächlich nur um das Geld, das wir nicht mehr haben, und um die Lebenslüge auswärtiger Potenz, die oft beschworene neue Normalität?

Quelle:
Zur Hunnenrede von Wilhelm II., gehalten am 27.7.1900 bei Verabschiedung des deutschen Südostasiatischen Expeditionskorps in Bremerhaven: http://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede

(79) 16.11.2006
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 22.11.2006
Kontrolle der Bundeswehr; Peter Carstens "Einsatz und Kontrolle" (Frankfurter Allgemeine 13.11.2006, S. 1)

   Das Klandestine ist dem Militär eigen. Natürlich will man dem Feind nicht eröffnen, wie und wo man zuzuschlagen gedenkt; auch Finten gehören zum Geschäft. Nun wird der Feind aber auch oft im eigenen Lager vermutet, gerade bei den Zivilisten im Tross. Wenn’s dann schief gegangen ist, gibt dies Anlass zu Dolchstoßlegenden – nach dem ersten Weltkrieg ebenso wie nach Vietnam: Auf dem Felde unbesiegt, ist den Offizieren das vor Angst kopflose Volk in den Rücken gefallen. Selbst Fremde, wenn denn militärisch qualifiziert und verbündet, sind in den Korpsgeist noch eher mit einbezogen und werden als ungleich verständnisvoller und vertrauenswürdiger eingeordnet als die – zumal ungedienten – Zivilisten, vielleicht gar die Sozialisten, die unwürdig um des Volkes Gunst buhlen. Ist der Krieg erst einmal vorbei, liegen sich selbst die ehemaligen militärischen Feinde zu Jahrestagen des Todes achtungsvoll und tief bewegt in den Armen. Am besten sogar – und das ist der Pawlow’sche Reflex nach Vietnam – man sieht überhaupt vom wehrpflichtigen Bürger in Uniform ab, schafft auch persönliche Distanz zum wankelmütigen Volk und eine ungetrübte Atmosphäre des Militärisch-Professionellen.
   Nüchtern betrachtet: Dieses Denkmuster erleichtert und verlängert Projekte wie Afghanistan und Irak, macht das nach Bewährung und Ressourcen suchende Militär auch verfügbarer für partikuläre Interessen. Nun kann man die engste Kopplung von Einsatz und Kontrolle, die Kant in seiner unsterblichen Schrift „Zum ewigen Frieden“ erwähnt hatte, unter heutigen Bedingungen kaum realisieren. Dies war die gute alte Tradition des Kampfes der Häuptlinge, bei der Planung, Ausführung und Schmerzempfinden in einer Person zusammenfielen. Auch den weiteren Rat Kants, die Entscheidung über den Krieg den eigentlichen Lastenträgern, also dem Volk, persönlich zu übertragen, möchte ich als heute eher unrealistisch außer Acht lassen. Aber wir brauchen tatsächlich mehr Transparenz und Rückkopplung. Dies mag bei geheimhaltungsbedürftigen operationellen und logistischen Fragen auch, wie von Peter Carstens vorgeschlagen, einem hoch repräsentativen parlamentarischen Gremium anvertraut werden. Aber die Grundfragen und die fundamentalen Abwägungen – zum Schutz welcher Rechtsgüter wollen wir in existenzielle Grundrechte von Soldaten und von deren Gegnern eingreifen – und die Evaluation von Missionen nach Ziel und Erfolg, das muss hoch öffentlich erörtert und entschieden sein. Sonst lernt das Volk aus Kriegen nichts, zumal nicht aus den Kriegen hinter dem Horizont.
   Mit ihrer breiten medialen und politischen Kompetenz ist die F.A.Z. eine der ersten Adressen, den Wunsch der Kanzlerin aus dem Vorwort des Bundeswehr-Weißbuchs 2006 aktiv aufzugreifen, nämlich diese für Einsatz und Kontrolle grundlegende gesellschaftliche Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik beherzt anzustoßen.

(10) 25.08.1993
Rheinischer Merkur; abgedruckt 10.9.1993
Militärpolitik; Ausländerfeindlichkeit
T. Kielinger im Merkur v. 20.08.93, S. 1 ("Wofür noch Verteidigung?")
   Es mindert eigene Betroffenheit und ist daher höchst verführerisch, die erweiterten Aufgaben der Bundeswehr auf ein Berufsheer zu delegieren. Aber es ist gefährlich:
   Zum einen verlöre der Staat ein für die angemessene Handhabung seiner militärischen Werkzeuge wichtiges feedback: der Staat darf letztlich nur anordnen, was er persönlich - idealiter unter repräsentativem Engagement der Bürger - auch in die Tat umzusetzen bereit ist. Die unkritische Verfügbarkeit einer légion étrangere oder eines dirty dozen, die noch dazu an laufenden Beweisen der eigenen Effizienz interessiert sein müssen, ist eine viel zu geringe Hürde.
   Zum zweiten: Die Gemeinschaft darf nicht den Eindruck erwecken, sie wolle einigen wenigen Bürgern das Recht auf Leben und physische oder psychische Unversehrtheit abkaufen. Gerade in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit und insbesondere in den neuen Bundesländern würde dies wie eine Verleitung zur Prostitution besonders schutzwürdiger Rechte wirken. Die sehr attraktiven Zulagen nach dem neuen Auslandsverwendungsgesetz haben bereits genau diesen Beigeschmack.
   Und schließlich: Eine Berufsarmee entfernt sich weiter von der Idee einer Bundeswehr, die möglichst die Einstellungen der Bevölkerung widerspiegelt. Eine aktuelle Studie des Sozial-wissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr in München identifiziert schon jetzt eine deutliche Verschiebung des Bewerberpotentials der Bundeswehr hin zur rechten Seite des politischen Spektrums und warnt vor der Gefahr zunehmender Attraktivität der Bundeswehr für junge Männer, die den demokratischen Zielen und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77, März 1993). Diese Tendenz wird durch Schaffung einer Berufsarmee, die auch Aufgaben einer Fremdenlegion erfüllen soll, gewaltig angefacht. Die Vorstellung, von Rechtsradikalen bei einem Auslandseinsatz vertreten zu werden, ruft bei mir erhebliche Beklemmungen hervor.

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