Samstag, 24. Juni 2017

Heimatmilch, LUST AUF DEUTSCH LAND und unsere Identität




22.6.2017: Ich suche im Kühlschrank etwas, um meinen Kaffee zu verlängern. Und treffe dort völlig unvorbereitet auf HEIMAT MILCH, die FAIRE Milch, im Kuhfell-artigen Tarnfleck. Im Briefkasten lauert noch – beim Brötchenholen morgens hatte ich es schon per Autoradio vorhergesagt bekommen – das Symbol eines wohl ganz besonderen Tages: Die BILD-Ausgabe vom 22.6.2017 mit der Schlagzeile in schwarz-rot-goldenen 200-Punkt-Lettern „LUST AUF DEUTSCH LAND“, tatsächlich mit dieser heute eher ungeübten, altertümlich klingenden Buchstabentrennung zwischen DEUTSCH und LAND und einem Model in schwarz-rot-goldener knapper Bade-Anmutung, kämpferisch-siegerisch truimphierend - über einer Kühltasche. Kühltasche - das neue K. Was feiern wir denn eigentlich? Ach ja: BILD wird heute fünfundsechzig Jahre jung und alle in Deutschland installierten Briefkästen sollen das wissen!

Exkurs: Als eine Wiedervereinigung noch Gegenstand gewagter Prognosen war, als der Westen sogar noch ein innerdeutsches Ministerium mit – später wieder verloren gegangenen – Masterplänen für die Einheit unterhalten hatte, da kursierte in Ost und West der Witz:
„Wann bloß kommt die Wiedervereinigung?“
„2014!“
„Wieso denn 2014?“
„Dann ist die Zone 65 und kann rüber.“
Aber Zeitungen unterliegen offenbar nicht den Halbwertzeiten von Staaten; Exkurs Ende.

Milch aus dem Nahbereich, dann mit eher geringem Transportaufwand und kleinerem ökologischem Fußabdruck – das finde ich ja okay, weil etwas nachhaltiger. Aber ist das ein guter Anlass, Milch mit Heimatliebe aufzuladen? Und erst die LUST AUF DEUTSCH LAND, bei der ein knackig blondes Model Dosen-Bier trinkt, keine Milch: Wer soll denn da von Unlust erlöst werden? Womöglich die Spitzen von VW und Mercedes, die im Mittelteil des BILD-Geschenks u.a. über fliegende Autos fabulieren, uns aber kein Wort zum ganz realen Dieselruß- und NOX-Problem in unseren Großstädten gönnen. Sicher wertet BILD das real existierende Deutschland als in wesentlichen Teilen eigene Schöpfung und sieht fröhlich, dass es gut geraten ist. Besonders gut nun, da BILD seine vermaledeiten Achtundsechziger überlebt und überwunden hat und ihre ach so spinnerten Positionen zu einer potenziell manipulierenden Presse.

Sicher bin ich derzeit besonders gestimmt und gespannt. Ich habe gerade an der Evangelischen Akademie Loccum eine einschlägige und auch gruppendynamisch unerwartet dichte Vortrags- und Diskussionsveranstaltung genossen, unter der Überschrift „Populismus und die Gefährdung der Demokratie“. Ein Schwerpunkt war die Arbeit und Verantwortung von Medien. Ich will hier keinen Ergebnisbericht verfassen, dafür fehlen mir auch die Fachkompetenz und der ganz praktische Zugang zu einigen der dort behandelten Kommunikations-Welten. Aber ein wenig schreiben will ich zu einer kurzen Debatte am Rande der Veranstaltung – zur Identität und zu Faktoren, die Identität prägen können. Darüber nachzudenken lohnt sich m.E. deswegen, weil Identität – und zwar in einer individuellen Ausprägung ebenso wie in einer kollektiven Verklammerung – ganz zentral ist für eine mehr pluralistische oder mehr populistische Entwicklung einer Gemeinschaft.

Unser Gespräch war nach meiner Erinnerung von der Rekonstruktionsleistung in Warschau und Danzig ausgegangen und von meiner Einschätzung, dass Architektur Identitäten schaffen oder jedenfalls unterstützen kann, dass dies auch eine bewusste Strategie der Nationalsozialisten war, auch schon der Griechen und Römer. Die sehr bestimmt formulierte Gegenposition war: Identitäten werden nach eigener Erfahrung gerade nicht so, wohl aber – neben einer grundlegenden bereits vorhandenen Disposition – durch Literatur konstituiert und sind dann etwa im eigenen realen oder virtuellen Bücherschrank repräsentiert. Unser Gegensatz war wohl auch dadurch verschärft: Wer wollte, konnte meine These als Herausheben einer kollektiven Prägung von Identität interpretieren, damit auch als Lob einer populistischen Vereinfachung und Vereinheitlichung. Und die Gegenposition verstand sich möglicherweise eher als das Verteidigen vieler individueller, selbst komponierter und autonom kontrollierter Persönlichkeiten als die unverzichtbare Grundlage einer freien, toleranten Gesellschaft.

Ich versuche dies einmal aus meiner Sicht aufzudröseln, schicke gleich voraus, dass dies eine sehr subjektive und laienhafte Analyse sein wird, nicht von vertieften Kenntnissen der Humanwissenschaften getragen oder getrübt. Bemerken sollte ich noch: Mein Weltverständnis ist vermutlich besonders deterministisch, technokratisch und von einfacher Boolscher Algebra bzw. Wenn-Dann-Verknüpfungslogik geprägt. Dazu bitte Nachsicht: Was will man von einem Menschen erwarten, der mit Kosmos-Baukästen, technischem Spielzeug in Raummetern, Science Fiction und mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasien herangewachsen ist und der als Erfüllung des Ganzen die längste Strecke seines Berufslebens in einem Forschungsministerium zugebracht hat? Dann kann man sich halt als zellulären Automaten verstehen, der Tag für Tag seine Realität und Handlungsräume mühsam konstruiert und höchstens eines als göttlich gegeben verdrängen muss: Die völlig unverständliche und mit Wahrscheinlichkeitsgesetzen nicht annähernd erklärliche Komplexität der Schöpfung.

Begriffsfeld

Zunächst zum Begriffsfeld: Teils überschneidend zu „Identität“ werden u.a. „Bewusstsein“, „Persönlichkeit bzw. Person“, „Fremdbild/Selbstbild“, „Charakter“ bzw. „Typ“, „das Ich“, mit transzendentalem Oberton dann auch „Seele“ und zumeist als Teilmenge „Gewissen“ genannt, letztes als derjenige Teil von Persönlichkeit, der individuelle ethische Abwägungen treffen kann oder treffen soll. Ich möchte mich hier auf den Begriff „Identität“ beschränken und darunter die Summe derjenigen Eigenschaften eines Menschen verstehen,
mit denen er identifiziert und beschrieben werden kann,
die er partiell mit einzelnen anderen Menschen teilen kann,
die auf seine Handlungen Einfluss nehmen können
und die ihm selbst zumindest teilweise bewusst werden können.

Identität wird auch als Triangulation zwischen (bewussten) Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten zu Gruppen, Moden, Ansichten und Weltanschauungen verstanden, dabei als prinzipiell stabil und sich selbst treu bleibend und in sich selbst identisch (lat. idem: der oder dasselbe). Aber schon das klassische Altertum und insbesondere der Orient bewerteten dies bestenfalls als nützliche selbststabilisierende Illusion, siehe als Einstieg den anregenden Wiki-Beitrag zum Begriff Identität.

Nach meiner Auffassung kann die Identität eines Menschen prinzipiell zu allen Zeiten des Lebens, besonders aber in seiner Jugend modifiziert und manipuliert werden, in der Jugendzeit primär durch gezielte Lern- und Formatierungsprozesse verschiedenster Instanzen, in späteren Phasen insbesondere durch traumatische Erlebnisse und daraus folgende Konditionierungen, aber auch durch das Eintauchen in Medien, wenn diese ihrerseits explizite Identitäten zeigen, die ggf. sogar ubiquitär feilgeboten werden und dann fast unwiderstehlich werden. Ob und in welchem Umfang Identität Gegenstand genetischer oder umweltlicher Prägung ist, ist ein sehr alter und wie mir scheint auch stark ideologisch unterlegter Streit, ähnlich wie bei der Erblichkeit von Intelligenz. Die von den „Genetikern“ angeführten Zwillingstests sind in sehr vielen Fällen in Aufbau und Analyse angreifbar und die insbesondere von Pädagogen beigesteuerte Empirie („Manche lernen es halt nie.“) übersieht wohl zu häufig Urteilstendenzen, self fulfilling prophecies oder Prägungsprozesse außerhalb ihres eigenen zeitlichen und räumlichen Sichtfeldes, aber auch die den Schulsystemen zumeist eingeschriebene Kanalisierungs- und Auswahl-Logik. Danach möchte ich davon ausgehen, dass Identitäten grundsätzlich wandelbar und auch bewusst oder unbewusst gestaltbar sind. Es gibt Menschen, die Identitäten gezielt und professionell wechseln – Schauspieler, Agenten – und sie sind auch nach eigenem Befinden häufig dann am überzeugendsten, wenn sie „ganz in ihre Rolle geschlüpft“ sind. Einige Menschen zeigen das Krankheitsbild multipler Persönlichkeiten, bei denen sie unvermittelt und unbewusst zwischen verschiedenen Identitäten hin- und herspringen, nicht selten dabei auch zwischen unterschiedlichen Familienständen, Berufswegen oder sogar Muttersprachen; siehe auch den Wiki-Beitrag zur dissoziativen Identitätsstörung. Aber auch außerhalb jedes medizinischen Befundes kann sich ein Mensch wechselnden Umgebungen in verschiedenen, typischerweise durch einübende Erfahrung optimierten Rollen anpassen und dabei zwischen verschiedenen Erfahrungs-, Kleidungs-, Sprach- und Körpersprach-Niveaus variieren, mit individuell ausgeprägter Virtuosität. Nicht zuletzt kann die individuelle politische / gesellschaftliche Entwicklung auf dem Zeitstrahl Rollenwechsel oder jedenfalls eine wesentliche Änderung der eigenen Verortung triggern, frei nach dem gerne die Jugend belehrenden Spruch: „Wer mit Zwanzig nicht links wählt, der hat kein Herz; wer mit Vierzig noch immer links wählt, der hat keinen Verstand.

Was aber gehört alles in den Baukasten unserer Identität?

Elemente

Zur Identität gehören zunächst eher harmlose Basisdaten wie der Name, der gewöhnliche Aufenthalt, die aktuellen Körpermaße, alles, was sich in Zeugnissen und sonstigen Urkunden objektivieren lässt, typischerweise auch das Geschlecht. Eigentum und Besitzverhältnisse an Immobilien wie Mobilien dürften als erweiterte Identität vital dazurechnen (bei Männern vielleicht speziell: KFZ ;-), ebenso ein familienrechtlicher Status, auch das meist mit biologischen Analogien (z.B. Baum, Körper, Herde) wahrgenommene vertikale und horizontale Einordnen in eine Abstammung. Ganz wesentlich unter den selbst wahrgenommenen Teilen der Identität sind, weil als unmittelbar gestaltbar erlebt, Qualifikationen, insbesondere bei staatlich anerkannten Befähigungen oder solchen Fähigkeiten, die gesellschaftlich signifikant wahrgenommen werden und eine relevante Zahl von Mitbürgern erreichen. Informelle oder non-formale Bildung – als prägend empfundene Lektüre, Filme oder sonstige Darstellungsformen – mögen sogar als noch wichtigere Identitäts-Stifter empfunden werden, wenn sie initiativ aufgenommen worden sind, und sie werden in jedem Fall ein markanteres Einsichts-Erlebnis vermitteln als der eher nüchterne Teil eines Curriculums, zumal wenn er als bloß uniformierend oder formatierend erlebt wird. Dazu treten gewichtigere Erinnerungsinhalte oder Speicherdaten auf der bewussten wie auf der unbewussten Ebene. An der Prägung haben insbesondere Familienmitglieder verantwortlichen Anteil; nach neueren Forschungen sollen traumatische Erfahrungen sogar generationenübergreifend („epigenetisch“) induziert werden können. Einen solchen Transfer mag man auch als spekulativ bewerten, soweit dies über die soziale Vermittlung hinausreichen soll.

Ich gehe davon aus: Gerade „Identitäten von der Stange“ üben einen hohen Reiz aus. Hier meine ich Identitäten, die bereits einmal erfolgreich ausprobiert worden sind (das Nacheifern nach einem Vorbild), besonders aber Identitäten, die gleichzeitig die vorgefertigten Identitäten einer Gemeinschaft sind, einer politischen, medialen oder religiösen Gruppe oder gar eines gesamten Staates (in jeweiliger Struktur einer offiziellen oder interessierten Lesart). Gruppen-Identitäten dürften besonders attraktiv sein, wenn sie einer noch nicht gefestigten Persönlichkeit zusätzliche Sicherheit zu vermitteln versprechen oder – dann ist dies auch bei bereits durchgesinterten Naturen wirksam – zusätzliche Beute bzw. Vorteile für die weitere Entwicklung versprechen. Letzteres ist das zentrale Werbeelement aller schlagenden und nicht schlagenden Verbindungen, aller Geheimzirkel und -bünde, aller Neugründungen von Parteien und Bekenntnissen. Das copy&paste von Merkmalen, Symbolik und Ritual-Ausstattung auf die eigene Person erscheint dann ausschließlich vorteilhaft, insbesondere wenn die Gemeinschaft jung und aufstrebend dynamisch scheint, so wie ein frisch geborenes Schneeballsystem. Das Klandestine, der Reiz der nur mit wenigen Auserwählten geteilten Einsicht und Strategie sorgt dafür, das die Lipid-Schicht dieser Zellen oder Blasen umso dichter gerät – bis die Zeit reif erscheint, Ausbruch und breite Infektion zu wagen. Viele werden eine emotional besetzte Identitäts-Klammer auch als den wesentlichen Kern und als die Stärke eines Nationalstaates ansehen, siehe oben die LUST AUF DEUTSCH LAND.


Eine Identität völlig ohne Schnittmengen mit Gruppen-Identitäten erscheint mir als ausgeschlossen, möglich aber eine bewusste – wenn auch im Normalfall nicht völlig erfolgreiche – Minimierung gemeinsamer Merkmale, etwa bei erklärten Nonkonformisten oder Individualisten. Fallen die typischen überwölbenden Identitätsbestandteile unvermittelt weg, etwa beim Zusammenbruch eines Staates oder einer Firma oder auch bei grundlegenden Politikwechseln, so droht eine breit verunsichernde Identitätskrise, wenn nicht eine kritische Spaltung von Werten und Prognosefähigkeiten, bis sich mit einigem Abstand ein neuer statistisch stabiler Zustand einstellen kann.

Und genau das mag ein nachhaltiges Problem der neuen Bundesländer ausmachen: Man stelle sich vor, auf einen Schlag alle Gewissheiten zu verlieren und neue weniger zu erwerben, als denn alternativlos und teils unreflektiert untergeschoben zu bekommen, so als wechsele man über Nacht Gattung oder Geschlecht - die perfekte Kulisse für Verschwörungstheorien, gelben Neid und Rattenfänger. Dazu ein nach fast 20 Jahren noch immer aktueller Beitrag: http://www.vo2s.de/2000einh.htm und ein eigenhändig geschnitztes Liedchen:

Vom Westen beschickt,
zum Westen drainiert,
sorgsam entgrätet
und nett filetiert;
der Osten ist offen
und wird ohne Hoffen
statt zentralistisch nun ferngelenkt regiert,
nun ferngelenkt re - Giiier - t.

Bürger der Neuen Bundesländer haben dies gleich zweifach oder dreifach erlebt, 1933, 1945 und 1989, aber auch die der alten Bundesländer bemerken seit etwa 10 Jahren, dass bisher verlässliche Autoritäten, Vorhersagen und Freund-Feind-Muster brüchig werden, ob in der Europapolitik, der Außen- und Sicherheitspolitik oder auch in der Wirtschaft und dass vormalige Ehrenmänner, Branchen und Vorbilder wanken. Damit werden Identitäten, Wahlpräferenzen und auch Stabilität zunehmend amorph, teils bereits metamorph. In solchen unwälzenden Situationen, in denen die zentralen Gewissheiten, Loyalitätsverknüpfungen und manichäischen Kennungen aufgebrochen werden – es passt hier m.E. das Bild vom „Umwerten aller Werte“ besonders – dürfte es leichter als sonst fallen, Identitäten auf breiter Front neu zu unterlegen, und zwar quer durch alle Schichten und Gruppen der Bevölkerung. In den vergangenen Jahren haben führende Persönlichkeiten der Industrie ebenso wie der Banken und der Politik teils blitzartig Ansehen und Respekt verloren. Es mag uns beruhigen, dass derzeit selbst die politischen Ränder unorientierter, unorganisierter und in sich verfeindeter denn je wirken und damit jedenfalls in Deutschland bei Wahlen keine Erdrutsche drohen. Allerdings kann dies sehr situations- und personenabhängig sein; ein Kippen von heute noch staatstragenden Stimmungen in Zeiträumen von nur wenigen Monaten mag ich nicht ausschließen.

Äußerliches

Zu den Instrumenten, die auf Identität einwirken – und damit komme ich auf unser Streitgespräch am Rande zurück – gehören aus meiner Sicht auch Bauwerke und ich kann selbst nicht verhehlen, dass einige Architektur auf mich einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat, darunter auch eine außen streng neoklassizistisch, aber innen erstaunlich leicht und harmonisch gestaltete Villa auf dem Gelände einer Forschungsanstalt des Landwirtschaftsministeriums in Braunschweig (Forum der früheren FAL, des heutigen Johannes-Heinrich-von-Thünen-Instituts). Ich hatte interessiert nach Entstehungsgeschichte und dem Architekten gefragt: Nun, es war das frühere Kasino eines Vorläufers der DLR, der Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring (LFA/LHG) und der Architekt wohl Speer. Tatsächlich haben die Nationalsozialisten ähnlich wie bereits die Römer und Griechen und folgend viele Potentaten des Mittelalters und der Neuzeit auf die Überzeugungskraft und auch eine identifikationsfähige, erhebende und einigende oder auch Fremde verzagende Wirkung ihrer Theater, Tempel, Paläste, Magistralen und Brücken gesetzt.

Ich möchte noch weiter gehen und werde hier notgedrungen auch spekulativer: M.E. kann auch die Topographie einer Landschaft nachhaltig auf Identität und Selbstverständnis von Individuen einwirken: Nach meiner Ansicht hat die zerfranste Struktur Europas mit einem überdurchschnittlichen Anteil von Halbinseln und Inseln, von Verkehrshindernissen und Verkehrsadern wie hohen Bergketten, Meeren und markanten Flüssen eine überdurchschnittlich manichäische und aggressive Sammel-Identität geschaffen – und einen menschenfressenden Wettlauf der Metallurgen und Techniker. Und wenn im Nahen Osten erstaunlich viele vitale bis kämpferische Religionen entstanden sind, so mag man es jedenfalls zum Teil auch auf ein Leben unter ariden Bedingungen zurückführen können, das ein besonderes Regelwerk zur Harmonisierung zeitweise von Knappheiten beeinflusster krisenhafter gesellschaftlicher Prozesse nahelegte, dabei abgestimmte Identitäten formte, die bis in moderne Zeiten fortwirken.

Selbst komponierte Identität?

Eine interessante Frage bleibt, in welchem Maße wir unsere Identität selbst komponieren, jedenfalls beeinflussen oder kontrollieren können. Für den Juristen berührt das auch die Frage nach dem freien Willen, nach der rechtlichen Bindung und Verantwortung, letztlich auch nach dem Zweck und der ethischen Begründung gesellschaftlicher Strafe.

Was hat es nun mit dem freien Willen auf sich? In einem von meinem Großvater hinterlassenen Folianten aus dem vorletzten Jahrhundert heißt es: „Der Wille des Thieres, wie des Menschen ist niemals frei. Das weitverbreitete Dogma von der Freiheit des Willens ist naturwissenschaftlich durchaus nicht haltbar. Jeder Physiologe, der die Erscheinungen der Willensthätigkeit bei Menschen und Thieren streng wissenschaftlich untersucht, kommt mit Nothwendigkeit zu der Überzeugung, dass der Wille eigentlich niemals frei, sondern stets durch äußere und innere Einflüsse bedingt ist.“ Das ist der O-Ton des Zoologen Ernst Haeckel in der neunten Auflage seiner ernorm erfolgreichen „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“, einer populärwissenschaftlichen Entsprechung zu Darwins Evolutionslehre (1898, S. 223). Anm.: Ernst Haeckel war und ist durchaus umstritten, da  Vorstellungen von ihm später als Begründung für u.a. die nationalsozialistische Euthanasie und Eugenik gedient hatten. Allerdings war zu den gleichen Zwecken auch Darwins Forschung und Folgerungen benutzt worden und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte es in der westlichen Welt eine sehr große Zahl von prominenten Befürwortern und staatlichen Programmen zur „gezielten“ Verbesserung nationaler Genpools gegeben; in Skandinavien etwa wurden Sterilisierungsregelungen sogar erst in den Siebziger Jahren abgeschafft; siehe die Übersicht bei Wikipedia mit detaillierter Darstellung der Entwicklung vor und nach 1945: https://de.wikipedia.org/wiki/Eugenik. Mit diesen kritischen Positionen Haeckels hängt die oben zitierte Auffassung aber nicht zusammen; ich halte sie für nach wie vor schlüssig und sie wird heute sogar durch Experimente unterstützt, die in bildgebenden Diagnose-Verfahren einen (noch unbewussten) auslösenden Reiz vor der bewussten Manifestation eines Handlungswillens nachweisen.

Wenn dies so ist, dann ist zwar eine individuelle Willensentscheidung keineswegs ausgeschlossen – auch der unbewusst vorformulierte Handlungsanreiz wäre ja auf eine nur in dieser Person so konfigurierte Erfahrungswelt mit jeweils damit verknüpften Handlungsoptionen zurückzuführen. Aber an die Stelle einer hic et nunc frei formulierten Entscheidung würde ein wesentlich komplexer determiniertes Bauchgefühl treten, das eben auch einer geschickten Manipulation, einer Angst-gesteuerten Fixierung oder einer traditionellen Verhaftung ausgesetzt sein kann und das wir dann auf der bewussten Ebene nur noch mit einer rational erscheinenden Begründung einkleiden. Beeindruckend finde ich dieses sehr alte, von Schopenhauer übersetzte Zitat, das ich einer Reihe weiterer aufschlussreicher Quellen am Ende des Wiki-Beitrags zum freien Willen entnommen habe:

„Die Daumenschraube eines jeden finden: Dies ist die Kunst, den Willen Anderer in Bewegung zu setzen. Es gehört mehr Geschick als Festigkeit dazu. Man muss wissen, wo einem Jeden beizukommen sei. Es gibt keinen Willen, der nicht einen eigentümlichen Hang hätte, welcher, nach der Mannigfaltigkeit des Geschmacks, verschieden ist. Alle sind Götzendiener, Einige der Ehre, Andere des Interesses, die meisten des Vergnügens. Der Kunstgriff besteht darin, dass man diesen Götzen eines Jeden kenne, um mittels desselben ihn zu bestimmen. Weiß man, welches für jeden der wirksame Anstoß sei, so ist es, als hätte man den Schlüssel zu seinem Willen. Man muß nun auf die allererste Springfeder oder das primum mobile in ihm zurückgehen, welches aber nicht etwa das Höchste seiner Natur, sondern meistens das Niedrigste ist: denn es gibt mehr schlecht- als wohlgeordnete Gemüter in dieser Welt. Jetzt muss man zuvörderst sein Gemüt bearbeiten, denn ihm durch ein Wort den Anstoß geben, endlich mit seiner Lieblingsneigung den Hauptangriff machen; so wird unfehlbar sein freier Wille schachmatt.“ (Baltasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, 1647, Übersetzung: Arthur Schopenhauer)

Nutzt es etwas, die Identität als so vielfach beeinflussbar, als besonders plastisch anzusehen? Ich meine: Ja! Es gibt zumindest diese Hoffnung: Unsere Bereitschaft zum Gespräch, die nicht nur Mission und Meinungsaufgabe der anderen Seite im Sinn hat, sondern nüchtern auch die selbstkritische Analyse zulässt, eröffnet die Möglichkeit, Identitäten und ihren jeweiligen Hintergrund aufzuhellen und die eigennützige Entscheidung der anderen Seite anzustoßen, eine bürgerliche, tolerante und wirtschaftlich zumindest ebenso aussichtsreiche neue Identität zu gestalten. Und was das Populistische angeht: Ich halte für wahrscheinlich, dass die allermeisten Bürger – nicht nur die ewigen magischen 20% mit einem fatalen Hang zu Xenophobie und starker Führung – populistische Persönlichkeiten oder Strategien bejahen würde, wenn sie nur von der „richtigen“ Seite kommen, wenn ihre Lösungsvorschläge als pragmatisch gerechtfertigt erscheinen und wenn die Alternative ein nur lose behaupteter erheblicher Schaden für die Republik wäre. Es hilft m.E. bei der Kommunikation, wenn man nicht von einer manichäischen Scheidung zwischen Populisten und Nicht-Populisten ausgeht. Darüber hinaus: Auch eine nicht populistische Administration begeht mit statistischer Sicherheit Fehler, auch grobe Fehler, positiv gewendet: Fehler mit Lernpotenzial. Wenn wir versuchen, die Fehler nur deshalb auszublenden, weil Populisten solche Missstände freudig anprangern, verstärken und verewigen wir das Problem. Lassen wir ihnen den Punkt und werden im Dialog besser! Von einem guten Glauben sollten wir uns aber verabschieden - dass nämlich das überzeugendere Argument auf unserer Seite sei, dass wir populistisch geprägte Menschen schnell und dauerhaft auf unsere Seite ziehen könnten. Wenn Populismus, Ohnmachts- wie Allmachts-Phantasien Teil der Identität geworden sind, durch traumatische Prägung oder lang anhaltenden Aufenthalt in einer Informationsblase, dann ist kein Kipp-Effekt zu erwarten, höchstens ein langsames Lernen, und zwar eher über ganz handhafte, sinnlich geprägte persönliche Kontakte und Mitgestaltungs-Erlebnisse, weniger über Schaubilder, historische Herleitungen oder den Vergleich von Theorien und Weltanschauungen. Auch Texte wie dieser können im allerbesten Fall zur Immunisierung beitragen, nicht aber zur Korrektur von Verhaltensmustern oder Verortungen.

Zurück zur Milch-Heimat und zur pensionsreifen BILD: Beides ist nach meinem Geschmack völlig unnötig und eher spaltend als verbindend, bei der BILD auch das in-Besitz-Nehmen deutscher Symbole, hier der Farben der Bundesflagge, für die Eigenwerbung. Ist für BILD wohl auch der Wirkungsgrad unserer Demokratie wichtig, etwa die sachliche Kommunikation zwischen Regierung und Regierten? Ich glaube nicht. Im Jahre 2006 etwa hatte das letzte Bundeswehr-Weißbuch vor der öffentlichen Präsentation und Einleitung einer gesellschaftlichen Debatte gestanden. Die sollte auch zu einem besseren Verständnis der Bürgerinnen und Bürger für die militärischen Aufgaben und Einsätze führen, im Idealfall sogar zu einem Input von unten nach oben bzw. zu einer responsiven Politikgestaltung beitragen. Exakt in der Woche, die das Verteidigungsressort für die Pressekonferenz zum Weißbuch angekündigt hatte, nämlich am 25. Oktober, gleichzeitig Datum des Weißbuchs, brannte BILD einen bemerkenswerten Scoop ab – ergänzend zur damals täglichen Sexualkunde für alle männlichen Altersklassen noch die Bilder vom sogenannten Totenschädel-Skandal von Kabul, mit makabren Bildern von deutschen Soldaten, die respektlos mit Totenschädeln und Knochen aus einem Massengrab in Kabul spielen; siehe u.a. Spiegel-Bericht. Vorbildlicher investigativer Journalismus? Nicht wirklich. Die Begebenheiten hatten schon einige Wochen fertig recherchiert im Giftschrank gelegen und nun war offenbar eine besondere und strategisch planbare Gelegenheit, die Story mit dem anfachenden Rückenwind der bereits anberaumten Weißbuch-Veröffentlichung an eine Skandal-begeisterte Kundschaft zu verkaufen. Die Rechnung ging prompt auf. Auf der Pressekonferenz und in den folgenden Monaten wurde ausschließlich nach dem Skandal gefragt, nicht nach künftigen Aufgaben der Bundeswehr oder Strategien und Diskursen der Außen- und Sicherheitspolitik. Nach einem Vierteljahr war der aufwändige Weißbuch-Prozess dann endgültig grauer Schnee von vorgestern. Eine Chance für demokratische Debatte der für uns durchaus schicksalhaften Außen- und Sicherheitspolitik war abschließend vertan. BILD hatte der Bundeswehr und ihrer seit zwei Jahrzehnten schwindenden Verankerung in der Gesellschaft durchaus vorhersehbar einen Bärendienst erwiesen, aus meiner Sicht mit mindestens bedingtem Vorsatz – Patriotismus der besonderen Art.

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