Kindersoldat – made in Germany: Am 1. Juni 1970 laufe ich in Pinneberg auf, rücke ein in ein dämmriges Zimmer mit nach meiner Erinnerung fünf Stockbetten und lerne in den nächsten drei Monaten im Wesentlichen:
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Wäsche auf den Millimeter genau falten,
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mit G3, Maschinengewehr und Faustfeuerwaffe auf
den Zentimeter genau Pappkameraden – mit einem roten Stern auf dem Helm – zu
perforieren
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ständige Waldläufe, Alarmübungen, Nachtmärsche
und 24-Stunden-Übungen möglichst siegreich zu absolvieren
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und seltsame Tanzfiguren auf dem Kasernenhof in
mein Stammhirn zu versenken.
Da bin ich gerade mal 19 Jahre alt. In zwei Jahren, 1972, werde ich volljährig werden und werde erst dann diejenigen wählen dürfen, die mich gerade auf den kalten Krieg und ggf. den heißen Kampf am Fulda Gap konditionieren. Auslandseinsätze oder die robuste, wenn auch typischerweise heillose und Fluchtbewegungen lostretende Vorsorge gegen drohende Krisen am Hindukusch oder sonstwo auf diesem Planeten, so etwas gibt es zu meinem Glück allerdings noch nicht. Noch bevor ich in den Stiefeln geschäftsreif werden kann, gefechtsreif bin ich laut Wehrpass ja nun, entlässt man mich nach ca. 15 Monaten zur Aufnahme eines Studiums. Also – an jedem einzelnen Tag meiner militärischen Karriere war ich Kindersoldat. Inzwischen ist das Wahlalter heruntergesetzt und das macht ja auch richtig Sinn: Warum sollte jemand die Lizenz zum Töten innehaben bzw. nach Lage der Dinge das biblische Tötungsverbot gegen einen anderen Menschen ohne erkennbare Schuld desselben übertreten müssen, nicht aber die Lizenz zum Wählen erhalten, dann auch nicht zum zumindest theoretischen Beauftragen und Legitimieren derjenigen, die über Krieg und Frieden, Leben und Tod entscheiden?
Das Wahlalter ist inzwischen nachgerutscht, liegt derzeit bei 18 Jahren. Ist damit das Problem der deutschen Kindersoldaten ad acta gelegt? Nicht doch. Die Bundeswehr ist mitgerutscht und rekrutiert zunehmend unter den auch nach heutiger Rechtslage Minderjährigen. Der Jungbrunnen-Trend ist offenbar auch ein Erfolg einer in den letzten Jahren gerade auch auf junge Menschen gezielten Öffentlichkeitsarbeit, wohl auch eines als Lockstoff besonders betonten Bildungsversprechens für diejenigen, die sonst schlechter zum Zug kommen, die nun mit einer robusteren Gegenwart eine bessere Zukunft kaufen sollen. Oder wie in der Tabakwerbung: Catch them young! Gut geeignet wäre hier noch dieser Slogan - er war vor vielen Jahren in guter Sichtweite des Schulgebäudes unserer Kinder auf 24 qm plakatiert und sollte ihnen wohl die erweiterte Erlebniswelt des Rauchens schmackhaft machen, wie ein gewinnbringendes Investment - NO RISK, NO FUN! Denn sie wissen nicht, was sie tun.
Nach dem Ergebnis einer kleinen Anfrage der LINKEN-Fraktion zählt die Bundeswehr inzwischen schon mehr als 1700 Minderjährige in ihren Reihen, siehe den Text der Antwort: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/080/1808003.pdf bzw. den parlamentarischen Verlauf dazu: http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/727/72791.html.
Genauer hinschauen?
Eine interessante Neuerung: Mit Wirkung von heute = 1.7.2017 schaut die Bundeswehr genauer hin, jedenfalls auf etwaige verfassungsfeindliche Tendenzen bei ihren (aber nach wie vor auch jüngeren) Bewerbern, mit dem neuen Basis-Check = Link/Info des Bundeswehrverbandes. Anm.: Al Qaida, das heißt "Basis", aber das ist sicher der reine Zufall. Oder vielleicht nicht ganz: Zunächst war eine solche Überprüfung erwogen worden, um islamistische "Kurzzeitdiener" entlarven zu können, die sich direkt an der Quelle über Kampftechniken und Waffen schulen lassen könnten. In letzter Zeit allerdings sind auch rechtsextremistische Kreise in Verdacht geraten, sich in der Bundeswehr bei freier Kost und Logis ertüchtigen und trainieren zu lassen, also beim ganz großen Wehrsportbund, dem mit dem real stuff. In letzter Zeit? Na ja:
Bereits Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrtausends warnte eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr mit den Daten einer breiten Befragung von Jugendlichen davor: Unsere Armee werde „zunehmend für junge Männer attraktiv, die den demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind“. Und da (damals bereits) faktisch eine Situation bestehe, die auch für Wehrpflichtige die Wahlfreiheit – ‚Zum Bund’ oder ‚Zivi’ – eröffne, sei damit zu rechnen, dass „auch die anstehenden Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potential in die Bundeswehr tragen werden“. Das Problem der Attraktivität für Modernitätsverlierer stelle sich aber nicht nur für die Wehrpflichtigen, sondern auch und gerade für die Freiwilligen. Im Hinblick auf die Frage des eventuellen Übergangs zum Freiwilligensystem „werde man hier unter politischer Perspektive besondere Umsicht walten lassen müssen.“ Ich zitiere hier aus der Untersuchung von
Heinz-Ulrich Kohr, "Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen Bundesländern Ende 1992" (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77, München, März 1993) = http://www.mgfa-potsdam.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID=92bb8
Hat dann auch besondere Umsicht gewaltet? Das ist nicht überliefert. Tatsächlich nahm seit Beginn der Neunziger die Anziehungskraft für bürgerliche Bewerber in dem Maße ab, in dem das Aufgabenspektrum und auch das Einsatzgebiet der Bundeswehr immer uferloser wurden. Dies konnte man auch mittelbar ablesen an den zwischenzeitlich herausgegebenen Weißbüchern und verteidigungspolitischen Richtlinien, die im Rahmen der „inneren Führung“ immer weniger strukturier- und vermittelbar gerieten.
Und hier zeigt sich das eigentliche Dilemma der Bundeswehr, mit oder ohne Basis-Check: Robustere Aufgaben verlangen robustere oder zumindest nachträglich besonders gehärtete Personen. Jeder Personalverantwortliche weiß, und das bereits vor seiner ersten Weiterbildungsmaßnahme: Die Arbeitsplatzbeschreibung definiert das Bewerberfeld. Man kann ein Stück weit auch mit den Gegenleistungen spielen - besondere Zulagen, Qualifikationsangebote, vielleicht gar Familienfreundlichkeit - aber man kann am Arbeitsplatz am Ende nur den- oder diejenige nachhaltig einsetzen, der die Arbeit ohne psychische und körperliche Schäden verrichten kann und verrichten will. Im Falle der Bundeswehr verschieben schon die militärische Grundaufstellung und Organisation, erst recht aber die ganz realen Auslandseinsätze die Arbeitsplatzbeschreibung und das identitätsstiftende Koordinatensystem mit dieser Folge in einen Bereich mit stärker autoritärer und gewaltbejahender Grundeinstellung: Die vielbeschworene bürgerliche Mitte will ihren Nachwuchs diesen robusten Aufgaben und dieser robusten Gesellschaft nicht mehr aussetzen oder jedenfalls nicht mehr in repräsentativer Menge, auf alle Fälle nicht dort, wo es weh tun kann. Das moderne, real raumgreifende Verständnis von Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit seiner "Armee im Auslands-Einsatz", mit seiner Sicherung von Rohstoff- und Warentransporten oder mit dem schwierigen und teils frustrierten Versuch, Menschenrechte in fernen Ländern zu fördern, wird vermutlich in der bürgerlichen Mitte als wahlfreier, als weniger existenziell und dann als weniger identifikationsfähig wahrgenommen als die Verteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff wie noch vor 1990, wie theoretisch der damalige Wehrauftrag auch immer gewesen sein mag. Am ehesten mit Verteidigung vergleichbar, als gerechtfertigt und als aktiv unterstützenswert mag der Mitte noch eine moderne Bollwerk-Funktion erscheinen, die militärische Abwehr von Migration, auch wenn man sie ihrerseits als kausale Folge militärischer Eingriffe etwa auf dem Balkan, im Irak und Südsudan, in Syrien und Libyen oder in Afghanistan deuten könnte. Was tun?
Wenn man mich fragt: Keine Knabenlese unter 18 Jahren, Ausbildung an Waffen nicht unter 21 Jahren, Einsatz im Ausland nicht unter 25 Jahren. Merke: Junge Männer zwischen 15 und 25 Jahren sind die gefährdetste und gefährlichste Spezies dieser Galaxis. Mein weiterer dringender Rat: Unverzüglich die Wehrpflicht wieder einsetzen, damit eine möglichst hohe Durchmischung aller gesellschaftlichen Schichten und möglichst viele Bürger in Uniform fördern.
Höre ich da einen geradezu instinktiven Einwand - Wehrpflicht und Auslandseinsätze, das geht gar nicht? Das führt zu meiner weiteren Forderung: Endlich eine breite gesellschaftliche Debatte zu den Aufgaben der Bundeswehr, und zwar einer Bundeswehr, die tatsächlich die Wünsche und Bedarfe eines Querschnitts der Bevölkerung repräsentiert, und Normieren und Definieren (lat. definire = begrenzen) aller Bundeswehraufgaben nach dem historisch bedingten Maßstab des Art. 19 Abs. 4 unseres Gundgesetzes. Das heißt: Unter abschließendem Aufzählen der konkreten Fallgestaltungen, unter denen wir die Grundrechte von Menschen in Gefahr bringen wollen, und zwar hinausgehend über juristisch nicht fassbare Kriterien aus Weißbüchern und Richtlinien wie Krise, Konflikt und Vorbeugung.
Osten ist rechts?
Die o.a. Untersuchung von Kohrs von 1993 enthält noch eine bemerkenswerte Heraushebung: Dass rechtsorientierte Modernitätsverlierer unter den Wehrpflichtigen erheblich überrepräsentiert sein werden, das werde "für die Wehrpflichtigen in den Neuen Bundesländern noch wesentlich deutlicher sein als für die Wehrpflichtigen aus den alten Bundesländern" (Kohrs aaO S. 26). Affinität zum Extremismus von 'rechts' sei ein 'männliches' Phänomen, das derzeit (Anm.: bereits 1993) entschieden häufiger in den neuen Bundesländern aufträte (Kohrs aaO S. 9). Heute wäre interessant zu wissen, in welchem Landesteil die Bundeswehr überdurchschnittliche Rekrutierungschancen hatte und hat. Im Rahmen der o.g. parlamentarischen Anfrage zielte eine Teilfrage darauf, ob es hinsichtlich der Einstellung minderjähriger Soldaten Informationen zur geographischen Herkunft gäbe - und die Antwort war recht nichtssagend:
Frage 14:
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse über die geographische Herkunft der minderjährigen Rekrutinnen und Rekruten? Wenn ja, bitte detailliert ausführen, und wenn nein, warum nicht? Inwieweit sind hierbei Unterschiede gegenüber volljährigen Rekrutinnen und Rekruten festzustellen?
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse über die geographische Herkunft der minderjährigen Rekrutinnen und Rekruten? Wenn ja, bitte detailliert ausführen, und wenn nein, warum nicht? Inwieweit sind hierbei Unterschiede gegenüber volljährigen Rekrutinnen und Rekruten festzustellen?
Antwort:
Im Personalwirtschaftssystem der Bundeswehr wird lediglich der Geburtsort angegeben, eine „geografische Herkunft“ kann daher nicht abgeleitet werden. Bezogen auf die regionale Herkunft unterscheidet die Bundeswehr grundsätzlich nicht. Für die Bundeswehr ist die regionale Herkunft der zu gewinnenden Soldatinnen und Soldaten weder relevant noch ein Auswahlkriterium.
Im Personalwirtschaftssystem der Bundeswehr wird lediglich der Geburtsort angegeben, eine „geografische Herkunft“ kann daher nicht abgeleitet werden. Bezogen auf die regionale Herkunft unterscheidet die Bundeswehr grundsätzlich nicht. Für die Bundeswehr ist die regionale Herkunft der zu gewinnenden Soldatinnen und Soldaten weder relevant noch ein Auswahlkriterium.
Etwas unbefriedigend. Regional differenzierte Chancen, potenzielle Bewerber/Bewerberinnen erfolgreich anzusprechen, müssten eine hochrelevante Führungsinformation sein; sie sollten angesichts der quantitativen wie qualitativen Rekrutierungsprobleme der vergangenen Jahre geradezu strategischen Goldwert haben. Dennoch ist es nicht einfach, genau dazu belastbare Zahlen zu erhalten. Vor einigen Jahren bekam ich mal - mehr unter der Hand - Daten für den Einstellungsjahrgang 2002, und diese Zahlen belegen einen nicht wirklich überraschenden Zusammenhang: Die Zahl der Einstellungen im Bereich der Unteroffiziere und Mannschaften korreliert sehr signifikant mit der regionalen Arbeitslosigkeit, siehe näher http://www.vo2s.de/mi_selekt.htm und siehe insbesondere die dort in Bezug genommene Excel-Grafik http://www.vo2s.de/2008-06-05_abl-nbl_bw_2.xls. Man kann es auch so formulieren, in leichter Konkretisierung eines berühmt-berüchtigten Verteidigungsminister-Spruches: Auch am Hindukusch hat die Jugend Mecklenburg-Vorpommerns wacker die Freiheit von weiterhin daheim schaffenden jungen Baden-Württembergern verteidigt; siehe dazu die Werte am rechten und linken Rand der o.g. Grafik. In gewisser Weise verfahren die Westdeutschen so wie die Osmanen mit ihrer traditionellen Elitetruppe, den Janitscharen, die sie bevorzugt aus unterworfenen christlichen Ländern rekrutiert hatten - gegen ein werbewirksames Karriere-Versprechen lassen wir lieber andere die Kohlen aus unserem Feuer holen.
Apropos Kohlen und Feuer: Ein gewisser Immanuel Kant hatte schon vor mehr als zweihundert Jahren kritisch auf diese zynische Arbeitsteilung zwischen den Planern von oben und den Handanlegern dort unten hingewiesen, siehe die Fußnote auf S. 9 seines "Ewigen Friedens" von 1795 und den begleitenden Text:
Anmerkung, um nicht missverstanden zu werden: Ich meine keineswegs, junge Menschen aus den neuen Bundesländern hätten - ggf. bedingt durch eine irgendwie totalitäre Vor-Erziehung - einen natürlichen Hang zum Radikalen oder Anti-Demokratischen. Ich sehe es vielmehr so: Die konkrete west-zentrierte Form der Wiedervereinigung, wie sie in einem hastig-verantwortungslosen laissez-faire Wertesysteme und Biographien völlig zerrissen hat und gerade viele junge Menschen orientierungslos, aggressiv und anfällig für undemokratische Rattenfänger gemacht hat, diese Wiedervereinigung macht diese jungen Menschen nun als Soldaten erneut zum billigen Objekt und Werkzeug ganz im o.g. Kant'schen Sinne - um Interessen zu dienen, die man bestenfalls als partikulär einschätzen kann, etwa Handelswege zu sichern. Qualifikations- oder Arbeitsmarkdefizite sind dabei ein besonders wirksames Instrument der Rekrutierung. Man kann das auch Verleiten zur Prostitution nennen.
(wird fortgesetzt)
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