Mittwoch, 12. Juli 2017

Bundestagswahl 2017 – GRÜNE & Verteidigungspolitik


So lange bis zur Wahl ist es nun nicht mehr. Was aber sagen die inzwischen veröffentlichten Wahlprogramme zur vergangenen, gegenwärtigen und beabsichtigten Rolle der Bundeswehr? Gibt es schlüssige Analyse zu bisherigen Einsätzen? Alles gut? Gibt es lessons learnt? Oder eher frischen, unbekümmerten Mut für morgen? Gibt es etwa kritische Betrachtungen zu vielleicht auch selbstgesetzten Ursachen der massiven Flüchtlingswellen Mitte der Neunziger Jahre und der neueren Zeit? Immerhin spielen die innere Sicherheit und eine offenbar nicht stabiler gewordene Weltlage in diesem Wahlkampf eine wesentliche Rolle.

Meine Prüfsteine für die Wahlprogramme sehen darum wie folgt aus – und ich werde versuchen, sie auf die einzelnen Programme loszulassen, werde die jeweiligen Programm-Passagen mit jeweiligen Klammer-Angaben (Seite/Absatz) zitieren, und soweit angezeigt, im Wortlauf wiedergeben:
1.      Rechenschaft / Analyse
Gibt es eine nachvollziehbare Rechenschaft zu früheren bzw. laufenden Einsätzen, insbesondere in Somalia, auf dem Balkan, in Afghanistan oder Südsudan? Gibt es ansatzweise eine Betrachtung zum etwaigen Kontext zwischen nicht erfolgreichen Auslandseinsätzen, auch von Partnern, und zunehmender Destabilisierung, wachsendem Extremismus und Fluchtbewegungen, z.B. zu Afghanistan, zum Irak, zu Libyen oder zu den Balkanstaaten?
2.      Gesetzesvorbehalt vs. ad hoc
Nennt das Programm konkrete, vorhersagbare, ggf. justiziable Kriterien für Auslandseinsätze? Stellt es eine gesetzliche Regelung von Einsatzgründen in Aussicht, z.B. in Gestalt einer Anpassung des Grundgesetzes bzw. des Erlasses eines Bundeswehraufgabengesetzes?
3.      NATO / VN; Risiken und Interessen
Welchen Stellenwert haben NATO und VN? Was sind die relevanten Risiken und Interessen aus deutscher Sicht?
4.      Wehrverfassung
Gibt es Strategien für die Rekrutierung junger Soldaten bzw. eine Position zur Frage Berufsarmee oder Wehrpflicht? Thematisiert das Programm radikale Umtriebe?
5.      Organisation / Haushalt
Trifft das Programm Aussagen zur Organisation und Ausstattung der Bundeswehr? Wie ist dies ggf. begründet?

Ich werde mich auf die – auch in der derzeitigen öffentlichen Debatte – gewichtigeren Wahlbewerber konzentrieren und diese in der Reihenfolge der Ergebnisse bei der 2013er Wahl behandeln, also in dieser Folge: CDU/CSU (41,5%), SPD (25,7%), DIE LINKE (8,6%), BÜNDNIS’90/DIE GRÜNEN (8,4%), FDP (4,8%), AfD (4,7%).

Hier folgt nun der vierte Post, nämlich zur Programmatik der GRÜNEN.
Quelle zum Programm der Partei BÜNDNIS ’90/DIE GRÜNEN https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Gruener_Bundestagswahlprogrammentwurf_2017.pdf (Entwurf, beschlossen 10. März 2017; voraussichtliches Datum für die Herausgabe der endgültigen Fassung nach dem Parteitag der Grünen 3. bis 7. Juli 2017)

Hinweis: Ich zitiere nach den jeweiligen Seitenzahlen des oben verlinkten pdf-Dokuments des Entwurfs Stand März 2017 und nach den (von mir) pro Seite durchnummerierten Absätzen; nach Beschluss des endgültigen Programms werden sich insoweit noch Änderungen ergeben.
1.      Rechenschaft / Analyse
Gibt es eine nachvollziehbare Rechenschaft zu früheren bzw. laufenden Einsätzen, insbesondere in Somalia, auf dem Balkan, in Afghanistan oder Südsudan? Gibt es ansatzweise eine Betrachtung zum etwaigen Kontext zwischen nicht erfolgreichen Auslandseinsätzen, auch von Partnern, und zunehmender Destabilisierung, wachsendem Extremismus und Fluchtbewegungen, z.B. bzgl. Afghanistan, Irak. Libyen oder zu den Balkanstaaten?
Bewertung:
Eine Analyse bisheriger Auslandseinsätze nach Zielerreichung, Dauer bzw. Nebenfolgen ist im Programm der Bündnis-Grünen nicht erkennbar. Dabei wäre, auch wenn die Partei in der Zeit eigener Regierungsverantwortung Missionen aktiv unterstützt hatte, ein kritischerer Blick aus der nunmehrigen Perspektive der Opposition zumindest nicht ungewöhnlich oder widersprüchlich. 
Zwar problematisiert das Programm das Aufwachsen des IS, stellt dies aber nicht in einen heute unstreitigen Zusammenhang mit einer robusten Intervention (S. 31/Abs. 2) oder nennt militärische Eingriffe als potenzielle Fluchtursachen (siehe z.B. 31/2, 36/2). Das Scheitern der ISAF-Mission und die inzwischen wieder offene Zukunft Afghanistans werden nicht behandelt, etwa auch nicht die zugespitzte Situation im Südsudan oder die weiter ausstehenden nachhaltigen Erfolge in Somalia oder Mali. Die Problematik der teils massiven und unumkehrbaren Eingriffe in Menschenrechte durch Auslandseinsätze (z.B. Luftschlag am Kundus) spricht das Programm ebenfalls nicht an, auch nicht etwaige Möglichkeiten der Reduzierung ziviler Opfer oder des Schadenausgleichs.
2.      Gesetzesvorbehalt vs. ad hoc
Nennt das Programm konkrete, vorhersagbare, ggf. justiziable Kriterien für Auslandseinsätze? Stellt es eine gesetzliche Regelung von Einsatzgründen in Aussicht, z.B. in Gestalt einer Anpassung des Grundgesetzes bzw. des Erlasses eines Bundeswehraufgabengesetzes?
Bewertung:
Das Programm nennt keine eigenen Kriterien für Auslandseinsätze, arbeitet auch nicht ausdrücklich Fallgruppen von Auslandseinsätzen heraus, die aus Sicht der Partei zu bevorzugen sind. Wo das Programm den Einsatz von Militär – subsidiär zu ziviler Konfliktprävention und ziviler Konfliktbearbeitung – fordert, formuliert es eher allgemein: „zur Eindämmung von Gewalt, zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen und zur kollektiven Friedenssicherung“ (39/3). Die Schwelle zum Einsatz der Bundeswehr ist nach dem Programm auch nicht besonders hoch angesetzt, der Einsatz muss aber im Rahmen des Völkerrechts bleiben: „Sie darf nur dann eingesetzt werden, wenn alle anderen Maßnahmen keine Aussicht auf Erfolg haben (Anm.: eine schwer überprüfbare politische Prognose reicht danach, Alternativen müssen nicht etwa erfolglos versucht worden sein) und das Völkerrecht den Rahmen vorgibt.“ (39/3) Weitere Anm.: Das in der gleichen Programm-Passage zuvor zitierte und unterstützte „Konzept der Schutzverantwortung der VN“ ist ein keineswegs unkritisches Werkzeug und auch noch nicht etwa völkerrechtlich verankert. Die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect / R2P) ist bis heute nicht überzeugend ausgeformt, da sie das in der VN-Charta grundlegende Souveränitäts-Prinzip relativieren kann und typischerweise einen (erzwungenen) Machtwechsel bzw. regime change zur Folge hat, damit als Passepartout für robuste interventionistische Strategien militärisch stärkerer Staaten oder Koalitionen missbraucht werden kann.
Auch eine Initiative, die materiellen Voraussetzungen von Bundeswehr-Einsätzen innerhalb der Verfassung oder einfachgesetzlich zu klären, erwarte ich nach dem Wortlaut des Programms nicht. Soweit zu erkennen, befürworten die Bündnis-Grünen das bisherige bündnisfreundliche, auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 19./20.4.1994 gestützte Verfahren einer jeweiligen ad-hoc-Entscheidung des Bundestags über einen vorangehenden Beschluss der Bundessregierung, wie es dann Grundlage des Parlamentsbeteiligungsgesetzes v. 18.3.2005 geworden ist, ohne jegliche Einschränkung. Das Programm fordert nicht etwa die gem. Art. 2 Abs. 2 GG mit Art. 19 Abs. 1 GG  typische Einhaltung des Gesetzesvorbehalts für grundrechtsintensive Handlungsformen des Staates, sondern begrüßt den für die auswärtige Gewalt seit 1994 an seine Stelle gesetzten Parlamentsvorbehalt (39/5), auch wenn er in der Praxis keine signifikante Kontrollfunktion der Legislative gegenüber der Exekutive liefert – bei den mehr als 150 Einzelabstimmungen über Auslandseinsätze gab es 100% Zustimmung; etwas anderes steht nach der konkreten Konstruktion auch für die Zukunft nicht zu erwarten.
Hier wäre zumindest eine differenzierte Position jedenfalls möglich gewesen. Denn die vom Bundestag in der laufenden Legislatur eingesetzte Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr hatte in der expliziten Nr. 13 ihres Berichts zu einem kritischen Reflexionsprozess zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen von Einsätzen der Streitkräfte aufgefordert, gerade da es im Verlauf der Kommissionsarbeit gewichtige – und ausweislich des beschlossenen Inhalts unter den Mitgliedern mehrheitlich geteilte –verfassungsrechtliche Zweifel an der bisherigen Praxis gibt (Unterrichtung des Bundestages v. 16.6.2015 in Drs. 18/5000, siehe dort S. 44f; siehe auch Weißbuch 2016, S. 109).
Noch eine Anmerkung zur Konkurrenz von Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt: Das Programm der Bündnis-Grünen besagt, das Kapitel WB-FM abschließend (Welt im Blick / Wir stehen ein für Frieden und Menschenrechte): „Der Parlamentsvorbehalt ist eine wichtige Vorgabe unserer Verfassung und darf nicht relativiert werden.“ (39/5 a.E.) Nun würde jeder/jede in der Führungsriege der Grünen wohl bis zum letzten Atemzug hierauf beharren: Der Schutz der Menschenrechte vor staatlicher Gewalt, auch vor militärischer Gewalt ist der historisch nicht hinweg zu definierende Kern der deutschen Verfassung – und die Grundrechtsgarantie wurde 1949 nicht ohne tiefen Sinn,  gerade anders als noch in der WRV an den Anfang gesetzt. Wenn nun aber der Gesetzesvorbehalt des Art. 19 Abs. 1 GG bzw. das danach unbedingte Gebot, die Grundrechte einschränkendes Staatshandeln vorher, abstrakt und generell in einem numerus clausus von Eingriffstatbeständen zu definieren und die zu belastenden Grundrechte auch aufzuzählen, für Auslandseinsätze trotz ihrer immanenten und besonders hohen Grundrechts-Kritizität nicht gelten soll, so kann man dies nur auf drei Argumentationsstränge aufbauen:

(1) Art. 24 Abs. 2 GG, der den Parlamentsvorbehalt stützen soll, wäre gegenüber Art.  19 Abs. 1 GG vorrangig – eine angesichts der Historie bis 1945 und der im Vergleich wesentlich offeneren und allgemeineren Formulierung von Art. 24 Abs. 2 GG schwer haltbare Begründung.
(2) Die Grundrechtsgarantien von Art. 19 GG würden nicht gegenüber Ausländern gelten – das entspricht nicht der überwiegenden Rechtsmeinung und schon gar der nach dem Programm der Bündnis-Grünen weltgeltenden Bedeutung der Grund- und Menschenrechte (z.B. 37/4, 37/5, 37/6, 39/3).
(3) Im Kernbereich exekutivischer Handlungsmacht, jedenfalls in der Außen- und Sicherheitspolitik könne es keinen voll ausgebauten Grundrechtsschutz geben, denn ein solcher würde die Verlässlichkeit als Bündnispartner und damit die Staatsräson verletzen – auch diese Herleitung dürfte im klaren Konflikt mit Grundüberzeugungen der Bündnis-Grünen stehen.
Es gäbe für die Bündnis-Grünen allerdings auch eine vermittelnde Lösung, und sie vermöchte den fest in das grüne Genom eingeschriebenen universellen Grundrechtsschutz mit der zusätzlichen parlamentarischen Kontrolle der 1994er Entscheidung bruchlos zu vereinbaren: Unzweifelhaft könnte parlamentarisch der völlige Verzicht auf militärische Optionen beschlossen werden oder die Beschränkung auf die Landes- und Bündnisverteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff. Beides sind historische Zustände der deutschen Wehrverfassung von 1949 bis 1955 und von 1955 bis ca. 1992. Beide Optionen waren und werden nach herrschender Meinung weder damals noch heute als verfassungs- oder gar völkerrechtswidrig eingeordnet. Man könnte nun einen wohlerwogenen und dann auch gesellschaftlich zu debattierenden Schritt über 1992 hinaus tun, ohne die für Bürger, Verbündete und potenzielle Gegner unkalkulierbare ad-hoc-Konstruktion der heutigen Praxis zu erreichen, und zwar durch eine Zwei-Schlüssel-Lösung:
(1) Nachvollziehbar und justiziabel die Aufgaben der Bundeswehr generell konkretisieren und abschließend definieren (etwa: Verteidigung und völkerrechtskonformes Abwehren von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, z.B. unter konkretem Bezug auf Art. 7 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, und
(2) als zusätzliche Sicherung, gleichzeitig zur Stärkung der demokratischen Publizität einen konstitutiven Parlamentsbeschluss vorsehen, und zwar auch aus Respekt gegenüber unserer Verfassung ausdrücklich innerhalb des Grundgesetzes.
Sollten danach insgesamt weniger Einsätze als nach gegenwärtiger Praxis (das war nach mehr als 150 Parlamentsbeschlüssen die hundertprozentige Bestätigung aller bisherigen Kabinettbeschlüsse, ein geradezu sozialistisches Abstimmung-Paradies) herauskommen, gleichwohl mehr als bei der Beschränkung auf Verteidigung im eigentlichen Sinne bis zum Jahre 1992, so wäre das sicher auch in Augen der Bündnis-Grünen kein schmerzhafter Verlust, gleichwohl aber ein rechtsstaatlicher Gewinn. Zusätzlich wäre es ggf. auch ein Plus bei Stabilität und bei Ressourcen für zivile Staatsaufgaben: Wenn man etwa Einsätze wie ISAF ins Auge fasst, die auch aus heutiger professioneller Sicht militärisch gescheitert sind, gleichwohl mehrere Tausend zivile Opfer gekostet haben, beteiligte Soldaten traumatisiert haben, Milliarden verschlungen haben und zudem Produktion und Welthandel von Heroin signifikant angekurbelt haben.
3.      NATO / VN; Risiken und Interessen
Welchen Stellenwert haben NATO und VN? Was sind die relevanten Risiken und Interessen aus deutscher Sicht?
Bewertung:
Soweit erkennbar sind im Programm die VN priorisiert, auch deren Gewaltmonopol (37/3, 35/4, 38/5, 39/1); allerdings bekennt sich das Programm deutlich auch zur Bündnis-Integration, verwendet sogar an zwei Stellen den übereinstimmenden Terminus „eingebettet in die NATO“ (35/4 für die gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und 37/3 für eine die Menschenrechte stärkende [!] wertegeleitete Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik). Dies insinuiert m.E. ein irritierendes Überordnungs-Verhältnis etwa der NATO gegenüber der EU. Dies ist aber wohl missverständlich; denn insgesamt wird deutlich, dass das Ziel die möglichst breite und multilaterale Kommunikation und Kooperation ist, nicht die Verengung auf eigene oder kulturell bzw. weltanschaulich nahestehende Lager.
Risiken und Herausforderungen werden im Programm sehr weit gezeichnet, ähnlich weit wie auch im Weißbuch 2016: Im Mittelpunkt stehen der Mensch mit seiner Würde, seinen unveräußerlichen Rechten und seiner Freiheit. Uns leiten die Wahrung von Frauen- und Menschenrechten und die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen. Das schließt auch den Kampf für soziale Gerechtigkeit und globale Entwicklung ein sowie die Bekämpfung von Geldwäsche und internationaler Korruption (37/4). „In der globalisierten Welt sind Außen- und Innenpolitik heute kaum mehr voneinander zu trennen. Ressourcenkonflikte, Fluchtbewegungen und die gemeinsame Herausforderung der Klimakrise zeigen, dass die Probleme der Welt nicht vor der eigenen Haustür Halt machen. Frieden, Freiheit, ein Leben in Würde und der Schutz der globalen öffentlichen Güter stehen allen Menschen gleichermaßen zu.“(37/5); siehe ferner die zu Beginn des Kapitels „Welt im Blick“ beschriebenen „dramatischen Herausforderungen“ (31/2 und 31/3 mit deutlicher Kritik sowohl an der russischen als auch der US-amerikanischen Führung, und zwar an Putin, da er an der Seite des Assad-Regimes mit brutalem militärischem Eingreifen und der  menschenverachtenden Bombardierung von Zivilisten Fakten schaffe, an Trump wegen seiner Pläne zu nationalistischer  Abschottung und Handelskriege, das Leugnen der Klimakrise, die Negierung der Genfer Konvention in Bezug auf das Hilfsgebot für Flüchtlinge und (Relativierung) des Verbots von Folter).
Wo sich das Programm konkret zu militärischen Handlungsformen bekennt, „auch wenn sie immer ein Übel (sind)“, bleibt es zu den konkret militärisch zu schützenden Interessen leider eher vage und weit auslegungsfähig: „Wir erkennen jedoch an, dass es Situationen gibt, in denen zur Eindämmung von Gewalt, zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen und zur kollektiven Friedenssicherung der Einsatz von Militär geboten sein kann.“ (39/3). In der Folge mag man aus der näheren Beschreibung des „Konzepts der Schutzverantwortung“ entnehmen, dass die Verfasser humanitäre Einsätze als eine besonders akzeptierte Fallgestaltung robuster Einsätze ansehen; allerdings ergibt sich aus dem Text auch keine Beschränkung darauf oder etwa der Ausschluss eines militärischen Schutzes von Handels- und Kommunikationssträngen, wie ihn etwa das Weißbuch 2016 ebenso wie vorangegangene Weißbücher und die geltenden Verteidigungspolitischen Richtlinien ausdrücklich als potenzielle militärische Einsatzfälle nennen. Anm.: Zur Bewertung der Schutzverantwortung siehe auch oben unter 2; ich halte R2P nicht für ein völkerrechtlich ausreichend fixiertes Rechtsinstitut und überdies für durch wiederkehrenden Missbrauch desavouiert.
4.      Wehrverfassung
Gibt es Strategien für die Rekrutierung junger Soldaten bzw. eine Position zur Frage Berufsarmee oder Wehrpflicht? Thematisiert das Programm radikale Umtriebe?
Bewertung:
Die Rückkehr zur Wehrpflicht ist im Programm, soweit ich erkennen kann, nicht empfohlen; dies wäre nach der Historie der Aussetzung aber auch nicht tatsächlich zu erwarten. Allerdings übersehen oder verdrängen die Bündnis-Grünen m.E.: Ihr durchaus ausdrückliches Bekenntnis zu auch robusten Handlungsformen, etwa zur Durchsetzung von Menscherechten (39/3), ist nur dann zu realisieren, wenn sie die Umsetzung auf Bevölkerungs- und Bewerbergruppen delegieren, die entweder weltanschaulich weit von den Bündnis-Grünen entfernt sind oder die wegen Arbeitsmarkt- oder Bildungsnachteilen sozial gezwungen sind, sich bei der Bundeswehr zu verdingen, sodass ein „freier Wille“ hier konstruiert wäre. Man könnte dies als das Ausnutzen oder Herabsetzen als Werkzeug werten.

Nach meiner Auffassung kann eine politische Gruppierung ohne Verlust an demokratischer Glaubwürdigkeit nur genau dasjenige programmatisch fordern, was sie mit einer repräsentativen Menge ihrer Mitglieder auch vor Ort umsetzen könnte. Alles andere scheint mir sehr nahe an Verleitung zur Prostitution bzw. nahe an einer recht unsympathischen Einstellung, die Kant einmal sehr bildhaft und mit ungewohnt einfacher Grammatik dargestellt hat, und zwar in einer Fußnote seiner noch heute wegweisenden Schrift „Zum ewigen Frieden“: „So gab ein bulgarischer Fürst dem griechischen Kaiser, der gutmütigerweise seinen Streit mit ihm durch einen Zweikampf ausmachen wollte, zur Antwort: ‚Ein Schmied, der Zangen hat, wird das glühende Eisen aus den Kohlen nicht mit seinen Händen herauslangen.’ “ (Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, 2. Aufl. 1796, Reclam-Ausgabe S. 17, im Netz u.a. hier).
5.      Organisation / Haushalt
Trifft das Programm Aussagen zur Organisation und Ausstattung der Bundeswehr? Wie ist dies ggf. begründet?
Bewertung:
Das Programm lehnt die Anhebung des Wehretats auf 2% des BIP ausdrücklich ab (35/6), empfiehlt zur Gewährleistung der erforderlichen Fähigkeiten aber eine Verstärkung von Synergien im Bündnis (35/5). 
Nicht problematisiert wird hier: Die zunehmende Integration kann praktische und psychologische Folgezwänge auslösen und hat dies im Falle der Arbeitsteilung etwa beim AWACS-System auch mehrfach getan. Ganz unabhängig von etatistischen Vorteilen muss diese arbeitsteilige Vernetzung auch ein natürliches strategisches Ziel des Bündnisses sein, um schwer kalkulierbare Kommunikations- und Entscheidungsprozesse durch gruppendynamische Effekte zu minimieren; "Bündnisfähigkeit", "faire Lastenteilung" und "Verlässlichkeit" sind nicht umsonst drei der in parlamentarischen Debatten zu Bundeswehreinsätzen meistgebrauchten und persuasivsten Wendungen.

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