Spahn-Sinn, Wahn-Sinn
Anknüpfend an den letzten Blog-Post: Was hat eine „Geh-auf-Nummer-Sicher“-Wahlpräferenz
vor Ort mit der allgemeinen Gemütsverfassung im Lande zu tun – und wodurch ist
dieses kollektive Gemüt gekennzeichnet? Vorsicht, Lektüre von > 10 Minuten,
mit dem Risiko des Meinungsaustauschs! Nun:
Sicherheit
Ohne die alles nichts sei – das könnte unser Wort des Jahres
2025 werden. Sicherheit, die man mit einer halben Billion Schulden für
Aufrüstung erst noch herstellen will, mit ungewissen Folgen für alle anderen zentralen Staatsziele. Sicherheit in wesentlichen Teilen durch Granaten, Panzerhaubitzen,
Marschflugkörper. Wie ehedem. Vielleicht auch durch atomare Rüstung, die
bereits Adenauer so sexy fand. 1957, noch keine 12 Jahre nach Hiroshima und
Nagasaki. 2025: Warum nicht auch wir, wenn – zumindest angeblich – jetzt sogar die Perser
danach streben?
Exkurs: Wobei es ja Japan nur deshalb unmenschlich getroffen hatte,
weil die allerersten offiziellen Adressen des Manhattan-Project, die Industrieregionen Ludwigshafen und Mannheim als
angepeilte Einsatzziele zu schnell aufgegeben hatten, sozusagen. Aber vielleicht ist alles ja sowieso gar nicht so schlimm: General Lesley Groves, der militärische Leiter des Manhattan-Projekts, hatte ja bei einer Kongress-Anhörung nach dem Krieg zu den Folgen der Verstrahlung nach Abwurf zweier Atom-Bomben treuherzig versichert: "In fact, they say, it's a rather pleasant way to die." Exkurs Ende
Der Kölner Stadt-Anzeiger hat am 30.6. mit Jens Spahns
Impuls für eine atomare Mitwirkung und vielleicht eigene nukleare Aufrüstung
aufgemacht. „Wir müssen“, so wird dort Spahn zitiert, „über eine
deutsche oder europäische Teilhabe am Atomwaffen-Arsenal Großbritanniens und
Frankreichs reden, möglicherweise auch über eine eigene Teilhabe mit anderen
europäischen Staaten.“ Im weiteren Verlauf der KStA-Ausgabe vom 30.6. haben
die Leser*innen dann noch Teil an einem für mich extrem zynischen Interview des
Politikwissenschaftlers Herfried Münkler; seine Kernthese ist: Diplomatie habe
als Mechanismus zur Deeskalation ausgedient – sichtbare Wirkung würden
ausschließlich Drohung und Machtpolitik zeigen. Bereits die Überschrift drückt
die finale Bedeutungslosigkeit zwischenstaatlicher Konfliktlösung aus: „Es gibt keinen Hüter der Regeln“. Herfried Münkler ist zudem der Überzeugung: Sofern der Weltfriede früher gewahrt worden wäre, wäre dies nicht das Verdienst der VN, sondern der USA als des zeitweisen Hegemons. Oder kurz gesagt: Might makes it right. In der Schule hatten wir es noch anders gelernt.
Unsicherheit
Lassen wir einmal dahinstehen, ob Spahn in der Rolle eines Dr. Seltsam gerade von eher persönlichen Problemen ablenken wollte. Oder ob der bereits emeritierte Professor Münkler mit seinen bekannt steilenThesen spielerisch neue Resonanz erzeugen wollte. Beide
Äußerungen fallen in eine Phase ohnehin großer Unsicherheit, wo jahrzehntelang gewohnte
Leitbilder, Vorbilder und Loyalitäten bröckeln wie trockene Sandburgen auf
Juist in Sonne und Wind. Wo wir die völlig realen Risiken einer sich galoppierend verändernden Umwelt, die jeder tagtäglich etwa bei einem Waldspaziergang unmittelbar anfühlen kann, schnellstens verdrängen sollen. Weil doch dafür angeblich weder
Zeit noch Geld da ist. Oder auf absehbare Zeit verfügbar sein wird.
Sodann erklärt nassforsch ein deutscher Nachrichtendienst: Russland werde in weniger als 10
Jahren in der Lage sein, den europäischen Westen militärisch
herauszufordern. Und gleich zu überrollen. Wohlgemerkt: Nicht erklärt ist, dass
Russland genau das tun werde und zu welchem rationalen Vorteil Russland auf diese Idee verfallen könnte. Und wohlgemerkt dozieren hier
Dienste, die seinerzeit den bevorstehenden Kollaps der DDR oder einen miesen
Zustand seiner Infrastruktur gerade nicht vorhergesehen hatten, ebenso
wenig später die bevorstehende Implosion der vom Westen über Jahrzehnte wohlgenährten
afghanischen Ghani-Administration. Alles das kam ja auch massiv überraschend!
Aber
unser Feindbild im Osten war schon in den Zwanzigern des 20.
Jahrhunderts gut bekannt und es ist nun extrem leicht wieder mit Angst aufzuladen.
Darf man nicht verpassen. Wie mit dem Mottowagen des Kölner Karnevals vom
Februar 2023, der Putin als blutrünstigen Nosferatu
darstellte, siehe etwa https://www.ksta.de/koeln/karneval-in-koeln/fleischwolf-nosferatu-blutbad-karneval-sendet-eindeutige-botschaft-gegen-wladimir-putin-467543
. Besonders clever sind dabei die recycelten Symbole auf der Brust: Hammer
& Sichel. Damit die Leute das auch wirklich schnell verstehen: Alles wie früher; gehe zurück auf Los!
Ostpolitik
Vielleicht aber können mehr Einfühlungsvermögen und
eine dialogbasierte Politik, wie sie Bahr und Brandt mit ihrer Ostpolitik
entwickelt hatten, auch heute weiterführen. Konkrete Vorschläge hat dazu
Winfried Böttcher („Russland – die Ukraine – der Westen“, 2022) formuliert, den
dankenswerterweise auch der Stadt-Anzeiger in Gastkommentaren zu Wort kommen lässt. In die gleiche Richtung zielt das im Juni 2025 veröffentlichte, m.E. heutzutage ebenso überraschende wie dankenswerte "Manifest" der Friedensgruppen der SPD, dazu noch unten.
Vorbereiten mag darauf eine eher einfache Überlegung: Die
USA dominieren und
kontrollieren nach ihrer nach wie vor hochgehaltenen Monroe-Doktrin ihren Kontinent, Norden und Süden, militärisch und wirtschaftlich. Wären sie dort mit einer Entwicklung wie in Osteuropa nach 1990
konfrontiert, z.B. durch chinesischen Einfluss, dann wäre das militärische Schützen ihrer wohlverstandenen
Interessen ohne Zweifel für uns äußerst naheliegend und nachvollziehbar Aber ebenso wie den Amerikanern in den 50er Jahren sollten wir auch den Russen eine Dominotheorie
zutrauen und zubilligen sowie das präventive Sichern ihres Glacis oder ihres cordon
sanitaire. Präventive Sicherheit war übrigens ein zentrales Motiv der westlichen Sicherheitsdoktrin nach 1990, umgesetzt durch Einsätze "out of area" aka Auslandseinsätze, in einem zeitlich wie räumlich erweiterten Einsatzgebiet. Weiterführend ist hier auch der Spiegel-Bestseller des sehr erfahrenen Auslandskorrespondenten und anerkannten Experten der foreign relations Tim
Marshall a.d.J. 2015 „Die Macht der Geographie“. Gleich im ersten Kapitel legt
er die besondere Verwundbarkeit - und Reizbarkeit - Russlands durch die niedrigschwellige Topographie der nordeuropäischen Tiefebene dar. Ich zitiere aus demVorwort: „Wladimir
Putin bezeichnet sich als religiösen Menschen, als engagiertes Mitglied der
Russisch-Orthodoxen Kirche. Es könnte also gut sein, dass er, wenn er abends zu
Bett geht, seine Gebete spricht und Gott fragt: ‚Warum hast Du nicht ein paar
Berge in die Ukraine gestellt?‘ “
Wir sollten zumindest erwägen: Russland - nicht etwa nur Putin - kennt die Geschichte der ganz realen großen Invasionen aus dem Westen, von Napoleon bis Hitler, kennt den jeweiligen massiven russischen Blutzoll höchst genau, bei noch lebenden Zeitzeugen. Und Russland kann das kontinuierliche Erweitern der ökonomischen und militärischen Sphäre des Westenns nach 1989 nicht als geopolitisch vertrauenerweckend deuten.
Das sollten wir zumindest mit einkalkulieren: Auch wir
bzw. unsere Militärorganisation haben durch nassforsches Verhalten, nicht
zuletzt durch - nach Kündigung der Überlassung an Russland - einen auf der Krim anstehenden NATO-Kriegshafen sehr wesentliche
Ursachen für die Eskalation der letzten Jahre gesetzt. Hans-Dietrich Genscher hatte
1989 genau vor einer solchen invasiven Politik ausdrücklich gewarnt. Auch dass wir durch massive Waffenlieferungen den Tod und die Verletzung von Menschen vor Ort hunderttausendfach kausal verursacht
haben – ohne uns selbst zu exponieren, auch das ist für vermutlich zwei Drittel
der Menschheit keine Ruhmestat. Sehr nüchtern betrachtet: Die NATO ist kein Chor zarter Friedenswahrer,
sondern eine beinharte und hocheffiziente Drehscheibe für Deals und Waffen aller Art. Für Geschäfte, die nicht einnmal einen privaten Markt und Wettbewerb brauchen, sondern die sehr verlässliche Staaten als Zahler oder Garanten im Visier haben. Oder: Die NATO ist ein heute wieder
stolz geschwellter Interessenvertreter genau jenes military-industrial complex, den der
scheidende US-amerikanische Präsident Eisenhower warnend in seiner
Abschiedsrede v. 17.1.1961 als vitale Gefahr für die Demokratie charakterisiert hatte – mit der profunden Erfahrung
eines Weltkriegsgenerals und amerikanischen Präsidenten, siehe etwa https://www.archives.gov/milestone-documents/president-dwight-d-eisenhowers-farewell-address
.
Verunsicherung
Tatsächlich prägt heute eine tiefe Verunsicherung die
„westlichen“ Staaten, Angst vor den schnell wachsenden Rissen in einem
altgewohnten militärischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen
Sicherheitssystem. Man könnte auch sagen: Eine diffuse Angst vor der Umwertung aller Werte, wie sie
einmal Nietzsche formuliert hatte und wie sie – in Teilen – auch die
DDR-Bürger*innen bei der Wiedervereinigung erlebt hatten.
In den unten beigefügten Leserbriefen habe ich versucht,
nüchtern auf Angstmache und Ängste zu reagieren. Wenn Sie möchten, dann finden
Sie das weiter aufgespannt auf meiner Homepage, nämlich alle meine Leserbriefe der letzten Jahre,
aber auch gesondert diejenigen, die über die Jahre zur Außen- und
Sicherheitspolitik abgedruckt bzw. veröffentlicht worden sind = https://www.vo2s.de/mi_leser.htm .
Immerhin ist damit auch ein wenig nationale und internationale Standortwerbung
für Burscheid verbunden.
Sie werden sehen, ebenso wie das im Juni 2025 veröffentlichte
SPD-Manifest für Friedenspolitik statt Aufrüstung trete ich eher für das Sprechen als für das Schlagen ein, und ich
sehe genau dafür auch sehr viele bisher ungenutzte Chancen. Aber hier zunächst meine letzten drei Briefe zum Thema:
(2025/56) 30.6.2025
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 8.7.2025
Spahn zur atomaren Bewaffnung Deutschlands: Bericht „Scharfe Kritik an Spahns
Vorstoß zu Atomwaffen“ u. Harald Stuttes Interview mit Herfried Münkler „Es
gibt keinen Hüter der Regeln“ (Ausgabe v. 30.6.2025 auf S. 1 u. 9)
Jens Spahn und Herfried
Münkter liegen voll im globalen Trend: Das Sprechen habe sich als zwecklos
erwiesen – sich schlagen oder jedenfalls schlagen können, das sei das Gebot
nicht nur der Stunde, sondern der absehbaren Zukunft. Regeln – wer bitte braucht
das denn noch? Und Werte sind am besten an ihrem Barwert zu messen. Das
erinnert mich an Barry McGuires schauerlichen 1965er Hit mit diesen markanten
Zeilen „But you tell me over and over and over again, my friend, how you
don’t believe we’re on the eve of destruction“.
Eine solche Vision mag
für den sprichwörtlichen "player with the biggest stick“ Sinn
machen. Aber genau den wird es, wie es Münkler sicherlich richtig
einschätzt, auf absehbare Zeit nicht mehr, vielleicht auch nie mehr geben.
Alles das ereignet sich in einer zunehmend engen, knappen und mit
Energie-Technik und explosiven Knowhow im Expresstempo aufgeladenen Welt.
In wenigen Jahren mag es dann schulterzuckend heißen: Dumm gelaufen!
Quelle etwa:
Dipesh Chakrabarty
befasst sich in seiner hervorragend belegten Betrachtung „The Climate of
History in a Planetary Age“ mit der ggf. sehr engen zeitlichen Begrenzung
unseres gegenwärtigen „Anthropozäns“. Auf S. 172 zitiert er sehr zustimmend:
„A critical
unknown,“ to recall the words of Langmuir and Broecker we have already
encountered in chapter 3 (Langmuir & Broecker, How to Build a Habitable
Planet: The Story of Earth from the Big Bang to Humankind, Princeton 2012) „is
the fraction of planetary lifetime that a technological civilization exists.
Does such a civilization self-destruct in a few hundred years or last millions
of years? For such a civilization to last, the species … must sustain planetary
hability rather than ravage planetary resources.“
Für die erstgenannte
Alternative ("just a few hundred years of anthropocene")
spricht das bekannte SETI-Paradox: Wonach die völlige Ergebnislosigkeit der
jahrzehntelangen, höchst aufwändigen Suche nach extraterrestrischer Intelligenz
– trotz der astronomisch heute sehr gut belegten Annahme einer großen Anzahl
habitabler Welten - am schlüssigsten mit der vergleichsweise rapide zu
erwartenden Selbstauslöschung aller technischen Zivilisationen zu begründen
ist. Und diese Wahrscheinlichkeit nimmt derzeit wohl exponentiell zu.
Es sei denn: Wir finden
zu einem Verhandlungsansatz zurück, wie ihn etwa Egon Bahr und Willy Brandt in
ihrer seinerzeit revolutionären Ostpolitik erfolgreich angewandt haben und der
heute das u.a. von Ralf Stegner, Norbert Walter-Borjans und Rolf Mützenich
gezeichneten SPD-Friedens-Manifest von Juni 2025 kennzeichnet (Wortlaut z.B.
unter https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/spd-manifest-russland-100.html) – bedauerlicherweise
ist dies aber selbst in der traditionell Diplomatie-freundlichen SPD nun hoch
umstritten.
(2025/55) 29.6.2025
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT am 3.7.2025 https://www.zeit.de/leserbriefe/2025/27
NATO-Gipfel; Leitartikel „What the f****!“ von Anna Sauerbrey (Ausgabe No. 27
v. 26.6.2025, S. 1)
What the f****? Offenbar
besitzt Europa weder das Souveräne eines Netanjahu noch die Chuzpe eines Putin,
um Donald Trump zu berechnen und zu manipulieren. Es sei denn: Wir werten es
als ausgebuffte Strategie unserer höchsten Repräsentanten, den Speichel
fässerweise zu lecken, Schutzgeld in Schiffsladungen zu geloben und sich
gleichzeitig zu gerieren, als ersetze die Nato künftig VN und Sicherheitsrat,
im Zweifel ohne jede hinderliche demokratische, rechtsstaatliche oder
völkerrechtliche Bindung. Alles das aber, um den alten Narziss nun auf neue,
grundstürzende und gerade für uns nützliche Wege zu locken?
Vielleicht leide ich auch nur unter einer finalen
kognitiven Dissonanz. Mein kleiner Trost: Zumindest 6 Milliarden Humanoide
außerhalb des christlichen Abendlandes dürften es sehr ähnlich sehen, als
demoralisierenden Rücksturz in ein finsteres Erdmittelalter, Jahrmillionen vor
jeder Aufklärung. Als Zeitenrückwende. Aber immerhin mit strammer Führung.
(2025/54) 26.6.2025
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 3.7.2025
NATO-Gipfel; Heiko Sakurais Cartoon „Der Nato-Gipfel huldigt Donald Trump“ und
Kristina Dunz‘ Leitartikel „Zeit für eine neue Nato“ (Ausgabe v. 26.6.2025,
S. 4)
Heiko Sakurai persifliert es zu Recht: Der Kotau kann nicht
das Ritual einer Wertegemeinschaft sein. Und Kristina Dunz formuliert es zu
Recht: Die Nato braucht speziell in ihrer europäischen Mehrheit entscheidend
mehr Resilienz und Eigenverantwortung. Was dann Schritt für Schritt eigene
Ressourcen in der Waffentechnik erfordert, aber zumindest ebenso einen
selbstbestimmten Weg beim Austarieren von Abschreckung und Diplomatie,
orientiert am Völkerrecht.
Es bleibt die Gretchenfrage
Unter dem Strich: Wir sollten uns fragen, welcher Plan die
längere Lebensdauer unserer Zivilisation sichert: (1) Ohne sichtbares Ende
aufrüsten? Bis Russland und alle etwaigen weiteren Systemgegner ermattet oder
entmutigt aufgeben? Oder (2) einen
Dialog beginnen, mit dem Ziel beiderseitiger Vorteile? Ich weiß, hier kommt
stereotyp der Vorwurf: Putin wolle doch gar nicht verhandeln; wir hätten es
doch oft genug im Guten versucht. Haben wir? Auch nur ein einziges Mal?