Freitag, 30. August 2013

Von Auschwitz über Srebrenica nach Damaskus

Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz und früherer Staatssekretär im Auswärtigen Amt, hat am 28.8.2013 in der Süddeutschen seinen Kommentar zu einem – von ihm dort unterstützten – militärischen Einsatz des Westens in Syrien betitelt „Nie wieder Srebrenica“. Hier auch der Artikel im Internet, mit der etwas modifizierten Überschrift „Lehren aus Srebrenica“. Ischinger nutzt Appell-artig eine Wortfolge, mit der  Joschka Fischer auf dem Kosovo-Sonderparteitag der Grünen in Bielefeld am 7.4.1999 das robuste Eingreifen in Ex-Jugoslawien legitimiert hatte: „Nie wieder Auschwitz!“, siehe auch einen weiteren Artikel aus der Süddeutschen.

Ischinger rückt den nun erwarteten Militärschlag zutreffend in die Nähe einer Strafexpedition. An seinem Handlungsplan bleibt dann aber der Übergang zu der eigentlich anvisierten diplomatischen Lösung völlig unkalkulierbar. Und der Vergleich mit Bosnien ist wohl eher vom dortigen Ergebnis her Wunsch-gedacht.

Die Problemlage in Syrien hat mit Landkarten, Fahnen und Staatsangehörigkeiten kaum noch etwas zu tun. Moskau und Washington mögen sich auch als diplomatische Garanten des Friedens verstehen – am Verhandlungstisch müssten allerdings ganz andere Nationen und Gruppen sitzen, wenn denn die Ergebnisse repräsentativ und nachhaltig sein sollten, Gruppen, die man ggfs. nicht einmal aufwerten oder stärken will. Zum anderen sind die großen Player der Geopolitik und ist insbesondere die sich nun wieder formierende Allianz der Aktiven viel stärker in den Trichter-Teppich des Nahen Ostens verstrickt, als dass sie als ehrliche Makler auftreten könnten. Ihre unbezahlten Hypotheken reichen zurück zu der eigennützigen und bis heute wirkenden Operation Ajax, mit der der säkulare iranische Staatspräsident Mossadegh gestürzt und ein despotischer Reza Pahlewi installiert wurde, über die fatale Waffenbrüderschaft mit einem später (in die Schlinge) fallen gelassenen Saddam Hussein bis zu den verwickelten Konfrontationen der neueren Zeit. Nichts, was den dringend erforderlichen Vorschuss an Vertrauen und Verlässlichkeit schaffen würde.

Erst recht verstehe ich die Dosierung nicht, in der Ischinger äußere Gewalt anwenden will – offensichtlich zu wenig, um alle Konfliktpartner bis zur Passivität zu schwächen, offensichtlich zu viel, um Frieden oder zumindest Waffenstillstand wahrscheinlicher zu machen und neue zivile Opfer zu vermeiden. Aber wahrscheinlich genug, um unsere Waffendepots nach dem bewährten Muster „old out, new in“ zu sortieren.


Etwas distanzierter - wenn auch nicht beruhigter - könnte man urteilen, wenn Deutschland mit dem mutmaßlichen Einsatz von chemischen Kampfmitteln gar nichts zu tun hätte. Nur: gerade das ist nicht der Fall. Und zwar nicht etwa schon deshalb, weil Deutschland in den Dreißiger Jahren Substanzen wie Sarin und Tabun entwickelt hätte, durch Chemiker der IG-Farben. Oder weil Deutschland chemische Kampfstoffe wie Senfgas oder Phosgen im ersten Weltkrieg genutzt hätte - wer sich ein grauenhaftes Bild vom ersten wirkungsvollen Einsatz chemischer Waffen an der Westfront am 22. April 1915 in der Zweiten Flandernschlacht bei Ypern verschaffen möchte, dem sei André Malraux Geschichte „Guerre et fraternité“ nachdrücklich ans Herz gelegt.

Nein, viel unmittelbarer:
U.a. deutsche Firmen hatten nicht nur Saddam Hussein mit Ingenieur-Technik und Vorsubstanzen zur Herstellung chemischer Kampfstoffe unterstützt, die sowohl militärisch im ersten Golfkrieg eingesetzt wurden als auch gegen die eigene kurdische Bevölkerung - als wir Saddam noch zu unserem Lager zählten. Deutschland hat ebenso Syrien ertüchtigt, ursprünglich in Folge eines Wettrüstens im Nahen Osten, das offenbar durch die Furcht vor einer nuklearen Bewaffnung Israels ausgelöst worden war. Oder: „Frieden schaffen mit immer mehr Waffen“. Was immer das Kriegswaffenkontrollgesetz tatsächlich bewirken kann - hier hat das Instrument offensichtlich mehrfach fatal versagt.

Und wer immer jetzt chemischen Kampfstoff eingesetzt hat: Wir könnten daran verdient haben. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Und so führt tatsächlich eine Spur massiver Inhumanität von Auschwitz nach Damaskuseiner der ältesten kontinuierlich bewohnten Städte der Welt. Anders aber, als Fischer und Ischinger denken.

Nachtrag:
Das britische Parlament hat gestern mit Mehrheit die von Premierminister Cameron vorgeschlagene Beteiligung an einer neuen "Koalition der Willigen" abgelehnt! Dies entspricht auch der weit überwiegenden Skepsis der britischen Bürger - wie Cameron in seiner Reaktion ganz unumwunden zugab.

Ich bin nicht sicher, ob dies die erste parlamentarische Abfuhr westlicher Staaten für eine Einsatz-Entscheidung war; eine solche Entscheidung des britischen Parlaments ist übriges auch nicht bindend. In Deutschland jedenfalls hat der - hier konstitutiv entscheidende - Bundestag in nahezu 120 Einzelbeschlüssen (diese habe ich mit den jeweiligen Anträgen und Protokollen als Excel-Liste hier dokumentiert) die Beschlussfassung des Kabinetts in jedem Einzelfall höchst verlässlich indossiert. Sodass ich immer mehr daran zweifele, ob wir von einer effizienten Kontrolle und von einer deutschen Parlamentsarmee sprechen können.

Montag, 26. August 2013

Entsorgung

Zufällig und ohne die Lauscher groß aufzustellen bekomme ich heute in der Straßenbahn eine innovative Entsorgungsstrategie mit: Ein ÖPNV-ler erzählt einer ÖPNV-lerin, wie schön er doch das Platzproblem in seiner Garage gelöst hat. Er hatte mit der Gattin neue Fahrräder angeschafft und da störte das alte Tretemanselbst, das seinen Dienst schon lange verrichtet hatte, das vielleicht auch bei der allfälligen Innovation auf dem Zweiradmarkt nicht mehr mitgekommen war.

Sperrmüll und das damit verbundene ius primae noctis, den freien Markt der Straße im Abendgrauen vor der eigentlichen Abfuhr, das gibt's ja in vielen Orten nicht mehr. Und den Drahtesel zum Schrott zu bringen war wohl zu mühselig. Aber ein Bahnhof lag nahe und so ließ der clevere Bürger sein altes, aber offenbar noch gut fahrbereites Rad unabgeschlossen dort stehen und siehe da, schon nach drei Tagen hatte es jemand weggegriffen. "Hat sich sicher noch über das alte Fahrrad gefreut" sinnierte der edle Spender und fühlte sich offenbar so wie ein überzeugter Anhänger des compassionate conservatism.

Vielleicht aber hatte er in seiner Cleverness einen jungen Menschen zu dem ersten Diebstahl seines Lebens verleitet. Seltsame Welt, die ihre Luxusprobleme froh gestimmt über potenzielle Kriminalisierung löst. Nämlicher Bürger würde sich sicher einige Jahre lang echauffieren, fände sein neues Rad auf dem gleichen Absatzweg in neue Hände.

Freitag, 23. August 2013

Wahlpflicht? Kandidierpflicht!

In der neuesten ZEIT plädieren zwei junge Redakteure, die übrigens zu den Autoren eines sehr gut lesbaren Politik-übergreifenden Zukunftsmanifestes aus dem November 2012 gehörten: "Wer nicht wählen will, soll zahlen". Zumindest die einleitenden Sätze des aktuellen Artikels sind auch im Internet sichtbar: "Wir sind jung, Mitte zwanzig und statistisch Teil jener Gruppe von Menschen, die gerne der Wahl fernbleibt." Den ähnlichen Titel "Wer nicht wählt, soll zahlen" hatte FOCUS vor vier Jahren gebracht.

Was ist davon zu halten? Sagen Sie Ihre Meinung? Sonst schreibe ich natürlich auch noch etwas dazu.

Und sollte man nicht noch weiter gehen? Warum eigentlich keine Kandidier-Pflicht? Hört sich nur auf den ersten Blick schräg und unerhört an. Im Grunde aber ist die Schöffen-Verpflichtung in der Justiz nichts grundlegend anderes und sie zielt auf genau den gleichen erwünschten Effekt: Nämlich durch Mitwirkung von Bürger/innen, die nach einem Losverfahren gewonnen werden, die besondere Qualität von Interesse-freien Entscheidungen zu gewinnen und zunehmende professionelle Betriebsblindheit zu vermeiden. Im Kleinen gibt es so etwas auch schon einige Zeit für den Sektor der Exekutive: Die Planungszellen, die vor Jahren von dem erfahrenen Praktiker und späteren Wuppertaler Soziologen Peter Dienel entworfen worden sind und die auf kommunaler Ebene bereits viel Transparenz und Akzeptanz für lokale Planungsprozesse geschaffen haben - sie basieren auf dem gleichen Prinzip.

Das kann man sich bei ein wenig Phantasie sogar für Planungen der Administration des Bundes vorstellen, weitergehend für Gesetzgebungs-Projekte. Stellen sie sich mal vor - ohne schwindelig zu werden - es gäbe neben dem an jedem Gesetzentwurf zu beteiligenden Normenkontrollrat auch noch einen wechselnd besetzten Bürger/innen-Rat! Damit hätten wir ein Demokratiemodell, das auch außerhalb von Wahlen lebhaft atmet.

Überhaupt stecken nach meiner festen Überzeugung im Losverfahren noch erhebliche Potenziale für die Demokratie. Wer war es noch, der da sagte: "Ich bin beispielsweise der Meinung, dass es als demokratisch anzusehen ist, wenn die Herrschenden durch das Los bestimmt werden, während Wahlen als oligarchisch betrachtet werden müssen."? Das war Aristoteles in seinem Werk Politica. Und diese Staatsform kann man im Kontrast zu Demokratie Demarchie nennen. Anm.: Unter dem letzten link finden Sie inspirierende Beispiele, u.a. zur Bürgerbeteiligung an einem Verfassungsentwurf für Island und die experimentelle Bürgerbeteiligung zum kommunalen Haushalt (!!!) der chinesischen (!!!) Stadt Zeguo.

Donnerstag, 22. August 2013

Manning, Kyle & Snowden




Bradley Manning hatte enthüllende Daten über den Krieg im Irak an wikileaks geleitet. Ein Militärgericht hat ihn nun zu 35 Jahren Haft verurteilt, siehe u.a. hier. Ein Begnadigungsgesuch wird wohl noch an Präsident Obama gerichtet werden, dass dies Erfolg hätte, ist aber eher unwahrscheinlich. Prozesse wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen hat es auch in den Fünfziger Jahren gegeben; der Haftrahmen hatte damals aber in aller Regel weit unter der Manning-Strafe gelegen – und das, obwohl es damals um Spionage ging, also um geheime Aktivitäten zum Nutzen eines militärischen Gegners und für teils hohe materielle Gegenleistungen– und nicht um eine, wie selbst das Gericht anerkannte, idealistische Tat mit dem Ziel unmittelbarer Information der Öffentlichkeit. Manning ist der Prototyp des Whistleblowers, eines Bürgers, der unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile andere Bürger über ein objektiv kritikwürdiges Verhalten aufklären will, der im übertragenen Sinne „Alarm“ schreit.

Keine Frage, dabei werden Regeln verletzt. Aber es sind dies zumeist Regeln, die eine Firma oder eine staatliche Einrichtung extra aufstellt, um ohne das Risiko öffentlicher Kritik und Kontrolle operieren zu können. Im Militärischen ist der dabei instrumentierte Gruppenzwang als Korpsgeist altbekannt - der Begriff leitet sich vom französischen esprit de corps ab. Und ein Korpsgeist kann sehr nachhaltig wirken, kann selbst nach Zusammenbruch eines verbrecherischen Systems noch für Jahrzehnte vorhalten, kann alles dichthalten und kann so selbst nach Wegfall der ursprünglichen "Staatsräson" eine Strafverfolgung und eine Genugtuung für die Opfer verhindern. Nichts hat die zügige Aufarbeitung des NS-Unrechts so gehindert wie gerade ein weiter wirkender Korpsgeist. Das historisch gut begründete Bauchgefühl hat bei der Wiederbewaffnung i.J. 1955 auch zu dem neuen Leitbild eines "Staatsbürgers in Uniform" geführt, der der Achtung der Grundrechte verpflichtet ist und dessen Grundrechte gewährleistet bleiben; dies wurde im damals entwickelten Konzept der Inneren Führung verankert. Es zwingt uns dazu, auch hier eine Abwägung zwischen dem offenbarten Regelverstoß des "Korps" und dem Regelverstoß des Insiders zu versuchen.

Im konkreten Fall spricht Einiges für Manning und für eine Welt, in der wache und kritische Menschen wie er weiter ermutigt werden. Konzepte wie das der deutschen Inneren Führung sind im Grunde für genau diesen Fall entwickelt worden: Für ein kritisches Abwägen individueller Werte gegen ein vorgebliches Staatsinteresse, und die Innere Führung wurde gerade mit dem Wissen eingeführt, dass ein militärischer Befehl massives, nicht revidierbares Unrecht bewirken kann. Manning war im Irak eingesetzt, und nach heutiger m.E. überwiegender Auffassung waren die Gründe, die zum militärischen Eingreifen im Irak geführt hatten, nicht stichhaltig. Nur der letzte Irak-Konflikt hat allein zivile Opfer in einer Größenordnung von 100.000 Toten gefordert und einen praktisch unregierbaren, ethnisch tief zerstrittenen Staat hinterlassen, aus dem sich die kriegführenden Mächte nach und nach zurückgezogen haben. Im Grunde rebelliert das Bauchgefühl dagegen, dass die Veranlasser und Nutznießer dieses Krieges ungefährdet von gerichtlicher Überprüfung ihres Handelns einen friedlichen Lebendabend genießen und gar noch historisch als Staatsmänner gewürdigt werden, dass aber Menschen, die wirklichen persönlichen Mut und Verantwortung für die Menschenrechte bewiesen haben, für den wesentlichen Teil ihres Lebens hinter Gitter gebracht werden sollen.

Mein Gegenbeispiel zu Bradley Manning ist Chris Kyle, der seine Entwicklung in seiner Biographie „American Sniper“ erläutert hatte - und sehr authentisch auch in einem TIME-Interview. Kyle war nach eigenen Angaben mit mehr als 160 bestätigten Tötungen der tödlichste Schütze amerikanischer Streitkräfte aller Zeiten, war ebenfalls im Irak eingesetzt und hat sich dort in einer Art Wettlauf der Scharfschützen den zweifelhaften nom de guerre eines „Devil of Rahmadi“ erarbeitet. Eingehend beschreibt er in seinen Memoiren u.a. den ersten Todesschuss, mit dem er eine junge Frau, die mit der Abschussvorrichtung für eine RPG (raketengetriebene Granate) gesehen wurde, neben ihrem Kind erschossen hat. Er erklärte sich und seinem Lesepublikum den Schuss damit, er habe eine von Saddam verhexte Frau gleichsam erlöst. Dass es sich als bewaffneter Fremder im Heimatland dieser Frau bewegt hatte, dass der Eingriff nicht durch einen Beschluss des VN-Sicherheitsrats gedeckt war und dass die USA im Übrigen ja selbst die Frucht der gewaltsamen Befreiung von einer militärischen Besatzung sind, das alles ist ihm dabei sicher nicht in den Sinn gekommen. Kyle wurde für seine einzigartige Jagdstrecke wiederholt dekoriert und damit auch zum Vorbild soldatischen Verhaltens ausgestaltet. Wäre er im Kampf gefallen, man hätte ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Denkmal gesetzt. Tatsächlich wurde er nach seinem Einsatz auf einem Schießstand in der Heimat erschossen, auf kürzeste Distanz, soweit erkennbar von einem anderen ehemaligen Soldaten, der unter post-traumatic stress disorder / PTSD litt.

Anklagen müsste man aber im Grunde die politischen Führer dieses Eingriffs, etwa Bush, Cheney und Rumsfeld, die in unterschiedlicher Weise vom Einsatz profitiert haben.

Dürfte ich entscheiden, dann würde ich vorziehen, in einer offenen Manning-Welt zu leben statt in einer argwöhnischen und manichäischen Kyle-Welt. Und ich finde ermutigend, dass am 30. August 2013 in Deutschland der Whistleblower Edward Snowden ausgezeichnet werden soll, der durch Information des britischen Guardian auf Art und Ausmaß der Überwachung der elektronischen Medien durch die US-amerikanische National Security Agency / NSA aufmerksam gemacht hat.

Angst essen Seele auf. Das gilt auf der Ebene der Einzelmenschen ebenso wie auf der Ebene der Kollektive, auch der Staaten. Wir müssen der staatlichen Paranoia und Überwachungswut entgegenwirken, wenn wir weiter in Freiheit leben wollen. Es ist auch an der Zeit, alle mit Notstand und Terrorabwehr begründeten Vorschriften zur Einschränkung der Bürgerrechte nüchtern und mit Augenmaß auf Notwendigkeit evaluieren zu lassen – und unsere Bürgerrechte auch gegenüber unseren Verbündeten entschlossen durchzusetzen. Es gibt dazu sogar in der Koalition sehr erfreuliche Vorsätze - und ich hoffe doch inständig, dass sie nicht nur aus einem Wahlkampf-Fenster herausgeredet sind = dass sie nach der Wahl eine komfortable Mehrheit finden und zu einem merkbaren Ergebnis führen!

Dienstag, 20. August 2013

Nr. 23 oder Matthäus 19, 30

So wird er also, der Wahlzettel, Wahlschein oder (amtlich) Stimmzettel, der am 22. September 2013 in allen Wahlkabinen des Rheinisch-Bergischen Kreises fürsorglich für Sie bereitgelegt wird. Kürten hat ihn schon als Muster im Internet-Angebot. Und so sieht er exakt aus - den Aufdruck "Muster" einfach wegdenken:


Aber warum trage ich eigentlich die Nr. 23, ganz am Ende unten links?

Auf den ersten Blick völlig klar: Addieren wir die Einzel-Ziffern meines Geburtsdatums, dann ergibt sich aus 1+1+5+1+9+5+1 natürlich was? Eben: Genau 23. Aber wie manche schöne erste Theorie, die das Überraschende für hoch signifikant hält, hat auch diese Vermutung Probleme mit weitergehenden reality checks, nämlich: Die Direktkandidaten mit den Startnummern 4 und 5 sind zwar tatsächlich noch vergleichsweise jung und frisch, sie dürften aber nach der oben vorgeschlagenen Regel nicht mal volljährig bzw. passiv wahlberechtigt sein. Und noch ärger wäre es bei den Nummern 2 und 3: Diese Bewerber müssten nach dem genannten Algorithmus mehr als 1000 Jahre Erfahrung auf dem Buckel haben - das würde sie zwar besonders auszeichnen, aber das erreicht nicht mal der amtierende Alterspräsident des Bundestages, der liebe Herr Dr. Riesenhuber. Und bei der Nr. 1 müssten wir schon komplexe Hilfsannahmen zu Rate ziehen (wie seinerzeit die Epizyklen, die das geozentrische Weltbild noch ein paar hundert Jahre am Leben hielten), etwa eine Subtraktion von Einzelziffern wegen einer vorchristlichen Geburt, was gerade bei einem christdemokratischen Bewerber nicht überzeugen kann. Damit führt die anfängliche Theorie wohl leider in eine Sackgasse und muss bis auf Weiteres beiseite gelegt werden. Obschon: Einerseits nimmt die Bibelforschung heute überwiegend und wohl ganz richtigerweise an, Dionysius Exiguus - Vater unserer Zeitrechnung - hätte doch nicht so ganz genau gemessen, eher zu kurz. Und andererseits könnte man ja das christliche Zeitalter ohnehin um den einen oder anderen Propheten verlängern, namemtlich um Jochanan aka Johannes den Täufer, aus desssen Schatten Jehoschua aka Jesus erst einmal heraustreten musste. Nun ja, das alles bleibt doch ein wenig spekulativ, fast esoterisch und kann das säkulare Wahlrecht wohl auch nicht ohne Streit und Unfrieden erklären.

Aber wie kommt die 23 nun wirklich zustande? Kurz zusammengefasst: Wegen der Leernummern - und weil die Bundesrepublik halt aus der Perspektive des Wahlrechts kein Bürger-Staat, sondern ein Parteien-Staat ist. Dazu wollen wir uns die maßgeblichen Vorschriften, die pfleglichst das bereits Bewährte bewahren und weiter tragen, näher ansehen und dann den Wahlzettel nochmals lesen. Sedes materiae, wie der Jurist zur weiteren Vernebelung gerne sagt, sind § 30 Abs. 3 des Bundeswahlgesetzes und § 38 der Bundeswahlordnung. Nach § 30 Abs. 3 Bundeswahlgesetz gibt es im Grunde drei Schubladen untereinander:

(1) Bei der letzten Bundestagswahl bereits zugelassene Parteien - in der Reihenfolge der letzten Wahlresultate = beginnt auf dem Wahlzettel mit der CDU und endet mit der PSG:


(2) Weitere = neue Landeslisten-Parteien - in alphabetischer Reihenfolge = beginnt auf dem Stimmzettel mit dem clever gewählten Namen "Alternative für Deutschland", wäre 2017 ggfs. noch zu toppen durch "Aalfänger für Deutschland", und endet bei der Partei für Arbeit...:

(3) Die unterste Schublade bilden dann die sonstigen Kreiswahlvorschläge, in unserem Fall der einzige Einzelbewerber = ich:

Und dabei kommen gem. § 38 Satz 2 Bundeswahlordnung auch die bereits genannten Leernummern ins Spiel: Selbst Landeslisten, die im Wahlkreis gar keinen Direktkandidaten präsentieren wollen oder können (in der ersten Schublade sind es im Wahlkreis 100 etwa die Piraten), die erhalten im Geiste einen Zähler bzw. eine Leernummer, sodass sich die Nummerierung der Erststimmen-Bewerber - und konsequent ihr Platz in der linken Spalte des Stimmzettels - tatsächlich nach der Anordnung der Zweitstimmen-Bewerbungen richtet. Daher die Nr. 23 statt der vom unbefangenen Laien hier zu erwartenden Nr. 8 und mein Platz genau entgegengesetzt der pole position. Platzhase statt Platzhirsch sozusagen.

Also: Wo mich halt keine Partei ihr eigen nennt, insbesondere keine Partei, die 2009 schon mal mit im Geschäft war, stehe ich halt am Ende – und neben mir herrscht die blanke Leere des outer space. The void that exists between celestial bodies.

Revolutionen sind bei uns nun mal nicht angesagt. Berthold Kohler hatte mal mit aufrichtigem Erstaunen in einem Kommentar für die Frankfurter Allgemeine bemerkt (F.A.Z. v. 22.5.2003, S.1 -bko.-), und da wären wir auch gleich wieder bei einem meiner Lieblingsthemen:
'Schon Strucks Feststellung im Dezember, die Sicherheit Deutschlands müsse auch am Hindukusch verteidigt werden, war angesichts der langen Tradition deutscher Selbstbeschränkung auf die reine Landesverteidigung so revolutionär, dass man sich fragen muss, ob es schon deswegen keine Revolutionen in Deutschland geben kann, weil niemand sie bemerken will. Die von Struck nun vorgelegten Richtlinien (Anm.: link zum download der Richtlinien ist hier) lassen das jedoch nicht mehr zu: Sie begründen und beschleunigen den seit Jahren laufenden Umbau der Bundeswehr zu einer weltweit nutzbaren Interventionsarmee.'

Aber wir wollen uns gar nicht grämen. Wir wissen seit Keller: Die Bibel hat doch Recht. Und wie sagte kürzlich noch der alte Matthäus: Aber viele, die da sind die Ersten, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein.

Und natürlich mache ich das Beste aus meinem Los, sichere das Feld der Kandidaten zunächst nach hinten ab und trage dazu eine kleidsame Warnweste,

mit meiner schon lieb gewonnenen 23 deutlich darauf:



Sonntag, 18. August 2013

Feldpost

Freitag, 15. September xxx
Meine lieben Eltern!
Erschreckt bitte nicht und vor allen Dingen macht Euch keine unnötigen Sorgen um mich, wenn Ihr jetzt erfahrt, daß ich verwundet bin. Vielleicht wißt Ihr es aber ja schon von meinem Kameraden, den ich um Mitteilung an Euch gebeten hatte, oder von yyy, der ich es gleichzeitig geschrieben habe und die den Brief möglicherweise eher bekommen hat als Ihr.
Um es kurz zu machen und das Wichtigste vorwegzunehmen, die Verwundungen sind keinesfalls gefährlich. Ich habe fünf Schüsse abbekommen. Je einen in die beiden Oberarme knapp unter den Schultergelenken, einen in die linke Hüfte, einen Handbreit über dem Hüftknochen, alles Steckschüsse, und zwei glatte Durchschüsse in der linken Hand, und zwar einmal im Handballen vorne zwischen den beiden Knöcheln zwischen Ring- und kleinem Finger und der andere bei den selben Fingern vorne an den Kuppen unterhalb der Nägel von unten her, alle fünf also keinesfalls gefährlich, wenn die Operationen später gut verlaufen und die Wunden gut heilen.
Der Blutverlust war bei den vielen Wunden zwar erklärlicherweise groß, so, daß ich an den ersten Tagen nur geduselt und geschlafen habe, jetzt geht es aber schon wieder ganz gut, wie Ihr seht, sonst würde ich ja nicht schreiben. Passiert ist es vor vier Tagen, Montag also, auf einer ziemlich freien, für Flieger leider zu gut einsichtigen Straße in diesem gottgesegneten Land durch Tiefflieger. Ehe wir uns überhaupt nur besonnen hatten, war es auch schon zu spät, und ich hatte die Geschosse im Körper gerade in dem Augenblick, als ich mich in den Graben neben der Straße warf. Dadurch verlor ich die Kraft in den Armen und rollte den Graben vollständig hinab und das wurde mein Glück. Sekunden später wäre ich von den Sprenggeschossen der zweiten Maschine, die gerade auf diesem Fleck lagen, buchstäblich zerrissen worden.
Damit wird der Krieg auch für mich für einige Zeit beendet sein, wir warten täglich auf die Überführung ins Reich, wo wir uns dann hoffentlich bald wiedersehen werden.
Und nun vor allen Dingen eins: Macht Euch keine unnötigen Sorgen. Mir geht es verhältnismäßig ganz gut. Ich habe ein ganz unbeschreibliches Glück gehabt. Es hätte leicht viel ernster ausgehen können. Sobald ich im Reich bin und Euch irgendwie benachrichtigen kann, dann tue ich das sofort. Ich glaube, in zwei, drei Monaten wird alles restlos wieder in Ordnung sein. Post habe ich schon seit sechs Wochen nicht mehr bekommen, gerade jetzt sehr bitter, aber leider nicht zu ändern. Sie ist durch Feindeinwirkung restlos verloren gegangen. Hoffen wir also auf ein baldiges Wiedersehen.
Euch alle, meine Lieben, grüßt auf das herzlichste
Euer dankbarer Sohn zzz

Anmerkung: Geschehen 1944 auf dem Balkan. So schnell wie erwartet kam es dann nicht in Ordnung. Wegen Wucherungen in den schlecht verheilten Wunden drohte später beiden Armen die Amputation. Ein Arm und eine Hand behielten lebenslang Funktionsstörungen und Jahrzehnte später bekam er Schwierigkeiten bei einer USA-Reise: Für den Sicherheits-Check hatte er noch zu viel Eisen in der Hüfte. Unter dem Strich aber: Er hat wirklich Glück gehabt. Wäre die Garbe aus der Bordwaffe eine Zehntelsekunde phasenversetzt gewesen, wäre der Soldat ohne Nachkommen gestorben. Und Sie würden dies hier nicht lesen.

Samstag, 17. August 2013

Parlamentarismus – und ein Präsident lernt dazu

Am 7.9.1999 gab’s im Bundestag eine besondere Feierstunde: 50 Jahre Grundgesetz. Dabei wurden die Bürger als demokratische Mitspieler oder gar als politische Impulsgeber nur ganz selten genannt, nur von Bündnis-Grünen und PDS. Dafür fiel umso häufiger der Begriff des Parlamentarismus. Was ist das? Unsere Sprache kennzeichnet mit "ismen" regelmäßig die Übermaß- oder Übertreibungsform wie etwa den "Fundamentalismus" oder Weltanschauungen wie Sozialismus oder Kapitalismus. Die "ismen" werden üblicherweise an Gruppen oder Überzeugungen geheftet, die selbstgewiss, verhärtet und reformfeindlich verharren. Haben wir mit dem eingeschliffenen Parlamentarismus eine parlamentaristische, vielleicht sogar repräsentativistische Demokratie?

Hinweis: Diese Feierstunde ist leider nicht im ansonsten sehr ausführlichen Internet-Angebot des Bundestages dokumentiert; man kann bzw. konnte sie allerdings kostenlos als Druckschrift anfordern. Das habe ich getan, die Denkschrift zur Arbeitserleichterung eingescannt und auf meiner Internetseite abgelegt. Warnung: Meine Randnotizen müssen Sie dabei mit hinnehmen.

Zum ersten Abschmecken zwei Zitate aus der Lehre - mit Kernelementen der Parlamentarismus-Philosophie:
"Ganz allgemein stellt sich die Frage, ob das zunehmende Komplizierterwerden der politischen Probleme und damit auch der politischen Entscheidungen nicht überhaupt weitgehend den intellektuellen Rahmen sprengt, der Voraussetzung echter politischer Entscheidungen durch das Staatsvolk ist."

Die Hervorhebungen stammen vom zitierten Autor. Meine Anmerkung: Also in klareren Worten, das Staatsvolk ist zu blöd. Dann müssen die Schweizer einer weit überlegenen Spezies angehören: Mit direkter Demokratie auch zu Steuerfragen haben sie sich für eine Arbeitslosigkeitsrate von unter 4 % entschieden. Und entgegen allen Gerüchten besteht die moderne Schweiz nicht lediglich aus einer großen Alm mit einer Bank, ein paar Alphörnern und vielen blauen Kühen. Es lohnt hier auch daran zu erinnern: Die Bede - die Steuerbitte der Fürsten an die Stände - ist eine der wesentlichen Wurzeln der mitteleuropäischen Demokratie. Die, die die Zeche zahlen, sollten an der Bestellung mitwirken. Zumeist senkt dieser gute Brauch die Kosten. Ich räume ein, der Gedanke ist heute etwas verschüttet. Eine Anmerkung: Im Zuge des Partei-Spendenskandals hätte man die - auch offizielle - Wiedereinführung der Notbede erwägen können; Altbundeskanzler Kohl hat mit seiner Wiedergutmachungs-Spendenkampagne des Jahres 2000 bereits Zeichen gesetzt. Nun aber das 2. Zitat:
"Verfassungstheoretisch handelt es sich (bei der vom Autor postulierten rechtlichen Freistellung des Parlaments von der Bindung an den unmittelbaren Volkswillen) um (...) eine hochmoderne Antwort auf das oben schon angesprochene Problem, dass die heutigen politischen Probleme sich infolge ihrer zunehmenden Komplexität der Beurteilung durch den einfachen Aktivbürger immer mehr entziehen und dass eine Politik, die in 50 oder 100 Jahren auch vor dem Auge der dann lebenden Generation noch Bestand haben soll, heute u.U. auf sehr wenig Verständnis stößt und daher ggfs. auch gegen, zumindest aber ohne die Zustimmung der heute lebenden Menschen durchgesetzt werden muss."

Wer ist's, der da die Politiker als weise Seher und kühne Vollstrecker würdigt, hart gegen sich und andere? Die Zitate stammen aus dem mit Abstand angesehensten Kommentar zum Grundgesetz, dem Großkommentar Maunz/Dürig. Bearbeiter der zitierten Passagen unter den Randnummern II 41 und II 64 zu Art. 20 des Grundgesetzes ist Roman Herzog, ehemals Präsident des Bundesverfassungsgerichts, später deutscher Bundespräsident. Der dann allerdings nach fünf Jahren Praxis als erster Bürger wesentlich mehr Bedarf an fühlbarer Demokratie sah, dazu weiter unten.
Und noch ein programmatisches Zitat:
"Politisches Handeln darf nicht bestimmt sein von der kurzfristigen Befriedigung von Einzel- oder Gruppeninteressen, deren Summe nicht schon das Gemeinwohl ergibt, sondern muss geleitet sein von der dauerhaften Gesamtverantwortung für unser Volk. Nur so kann es auch den Belangen von nicht organisierten Gruppen und der zukünftigen Generationen gerecht werden. Eine verantwortungsvolle Politik muss notwendige Entscheidungen auch gegen Widerstände in der öffentlichen Meinung zu treffen bereit sein."

Diese Passage weist einige Anklänge zu den vorhergehenden Zitaten auf; sie stammt aus dem Grundsatzprogramm "Freiheit und Verantwortung", beschlossen auf dem Parteitag der CDU am 23.2.1994 in Hamburg (Zf. 109). Konkret aufgeschrieben hat's hier einmal die CDU, aber das daraus sprechende obrigkeitliche, manchmal auch fürsorglich eingekleidete Denken ist in praktisch allen Parteien anzutreffen. Es sagt: Wir kennen die notwendigen Entscheidungen naturgemäß besser als die Betroffenen selbst. Es drückt den noch heute verhaltenen Schrecken aus über die erst vor historisch kurzer Zeit (von der Arbeiterbewegung) durchgesetzte Erstreckung des aktiven Wahlrechtes auf alle Teile der Bevölkerung. Ein Schrecken, der die Demokratie weiterhin als sorgsam zu dosierendes Wagnis beargwöhnt - und Bürger zu Mündeln macht statt zu Vertretenen.
Kommt es auf den Punkt, so trauen selbst die Grünen ihrem theoretischen Mut nicht und reagieren in hergebrachter Weise Regenten-Rollen-konform. Als etwa Verheugen im September 2000 vorsichtig auf das demokratische Defizit bei der Gestaltung der Europäischen Union hingewiesen hatte, kommentierte der damals amtierende Außenminister Fischer:
"Das ist nicht die Position der Bundesregierung. Allein die Vorstellung, dass wir eine Volksabstimmung über den Beitritt Polens zur EU abhalten, das muss man sich mal zu Ende bedenken."

Herzog war am Ende seiner Amtszeit als Bundespräsident und erster Bürger nachdenklicher und kämpferischer geworden: Im Rahmen des Staatsaktes zum fünfzigjährigen Bestehen BundesrepublikDeutschland am 24.5.1999 hatte er den Blick gegenüber der oben zitierten Kommentierung im Maunz/Dürig mit frischem Mut erweitert:
"Mit Reden und Dozieren ist es dabei (Anknüpfungspunkt: bei der klugen und phantasievollen Ausfüllung des Begriffs Freiheit) nicht getan. Auch die Demokratie muss, wenn ihr Wert vermittelt werden soll, spürbar sein, ja wieder stärker spürbar werden. Ich kann mir beispielsweise durchaus mehr direkten Einfluss der Bürger vorstellen, etwa das Kumulieren und Panaschieren der Wählerstimmen auch bei Bundes- und Landtagswahlen (!), die Ausweitung der Direktwahl von Bürgermeistern, die Verstärkung von Bürgerbegehren, zumindest (!) auf kommunaler Ebene. Gerade auf der Ebene der Nachbarschaften ist der Bürger ja in besonderem Maße zur Übernahme von Verantwortung bereit. Dort können sogar "Frühwarnsysteme" für gesellschaftliche Entwicklungen entstehen, die ein nur auf die Stimmen von Bürokratien und Verbänden hörender Staat (!) leicht übersieht."

Ihm ist es offenbar nach seiner Erfahrung im höchsten Staatsamt sehr daran gelegen, die Schnittstelle zwischen Politik und Bürger durchgängiger und lebhafter zu gestalten. Der Begriff "Frühwarnsystem" mag aus Sicht des Bürgers hier etwas schief und als Nachhall eines sehr obrigkeitlichen Staatsverständnisses klingen; der Bürger versteht sich ja ungern als latente Gefahr. Aber die Wortwahl macht doch das Interesse an direkter, unvermittelter Information und Kommunikation ganz klar.

Einen zum Jubiläum des Bundestages nachdenklich stimmenden Aspekt führte am 7.9.1999 die Gastrednerin ein, Dr. Najma Heptulla, Präsidentin der Rates der Interparlamentarischen Union und Vizepräsidentin des Indischen Oberhauses. Sie forderte die Demokratisierung der internationalen Organisationen. Allen voran der Vereinten Nationen, die mehr werden müssten als eine bloße Veranstaltung von Regierungen. Schäuble winkte gleich ab: Er glaube nicht, dass "wir die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ebenen staatlicher oder öffentlich-rechtlicher Körperschaften in erster Linie durch Parlamente organisieren können." Das ginge in Deutschland wie in Europa nicht und weltweit wohl erst recht nicht. Dies führt aber gleich auf einen anderen, noch wesentlich kritischeren Punkt: Im Rahmen von Internationalisierung und Globalisierung gehen immer mehr Entscheidungsfelder an überstaatliche und zwischenstaatliche Instanzen und zunehmend auch an den nicht-öffentlichen Bereich "verloren". Und zwar ohne dass dort mindestens die gleiche demokratische Teilhabe gewährleistet würde wie in den nationalen Parlamenten. In der Konsequenz müsste das Parlament wegen ausgehender Zuständigkeit und Kompetenz eigentlich kontinuierlich schrumpfen - zumal die Bürger ja auch die neu hinzutretenden übernationalen Institutionen brav finanzieren.

Und ein letztes Mal zurück zum 7.9.1999, zu 50 Jahren Grundgesetz und nun zur Politikverdrossenheit. Schäuble glaubt nicht, dass das Interesse der Bürger am Parlament abnähme. In der Feierstunde präsentierte er für diese frohe These ein beinhartes Indiz. Der Fernsehkanal "Phoenix" habe seine höchsten Einschaltquoten gerade bei Debatten des Bundestages! Ich muss gestehen: Ich weiß nicht, womit der Bundestag in diesem Programm konkurriert. Interessant ist Schäubles aufatmende Folgerung: "Wir brauchen nicht zu resignieren." Das jetzt ist mehrdeutig und könnte heißen:

  1. Wir müssen nicht zurücktreten - oder - 
  2. wir müssen das Volk noch nicht ganz abschreiben - oder - 
  3. wir können uns weiter beherzt gegen alle Reformen stemmen.

Was genau kann er meinen bzw. was verspricht er für den Fall, dass der Bundestag bei Phoenix mal nicht mehr den Quotenbringer macht?

Und noch'n Zitat, mit Hervorhebungen von mir:
"Wir sind uns alle der tragischen Folgen bewußt, die daraus entstanden sind, dass vor ... Jahren das deutsche Volk die Aufgabe und die Verpflichtung des deutschen Parlaments nicht verstanden hat. Erst die unheilvolle und unbegründete Distanzierung zwischen Parlament und Volk, die trotz vieler ehrlicher Bemühungen damals nicht hinreichend überwunden werden konnte, hat es gewissenlosen Demagogen möglich gemacht, die Herrschaft in Deutschland an sich zu bringen und unser ganzes Volk in ein namenloses Unglück zu stürzen. Es ist an uns allen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, durch die Darstellung unseres Wollens und durch unsere Arbeit daran mitzuwirken, dass heute eine andere innere Verbindung zwischen Volk und Parlament wächst und die Bürger unseres Staates ein tragfähigeres Verhältnis zu dem von ihnen gewählten Parlament gewinnen."


Für die innere Verbindung zwischen Bürgern und Parlament und gegen Ochlophobie oder Pöbelfurcht wirbt hier Hermann Ehlers, in seiner Antrittsrede als Bundestagspräsident am 6. Oktober 1953. Guter Mann!

Freitag, 16. August 2013

ISAF und der 3. Juli 1979

Wenn im Laufe des Jahres 2014 die ISAF-Mission - oder jedenfalls der robuste militärische Teil von ISAF - abgeschlossen werden sollte, spätestens dann sollte man ein sehr aufschlussreiches Interview nochmal durchgehen, das der französische Nouvel Observateur im Jahre 1998 mit Zbigniew Brzezinski gehalten hat, dem Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter. Und sollte sich fragen, ob die Abertausenden von zivilen Opfern des Nahen und Mittleren Ostens seit 1979 tatsächlich erforderlich waren.

Der französische Text ist u.a hier im Netz verfügbar, eine englische Übersetzung hier - und für meine deutsche Fassung unten bürge ich nur unter Ausschluss jeder Gewährleistung ;-)

Le Nouvel Observateur, Paris, 15-21 Jan. 1998

Le Nouvel Observateur - L’ancien directeur de la CIA Robert Gates l’affirme dans ses Mémoires : les services secrets américains ont commencé à aider les moudjahidine afghans six mois avant l’intervention soviétique. A l’époque, vous étiez le conseiller du président Carter pour les affaires de sécurité; vous avez donc joué un rôle clé dans cette affaire. Vous confirme?
Der frühere CIA-Direktor Robert Gates stellte in seinen Memoiren [„Aus den Schatten“] fest, dass die amerikanischen Geheimdienste die Unterstützung der afghanischen Mudjahedin bereits sechs Monate vor dem sowjetischen Einmarsch starteten. In dieser Phase waren Sie der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Carter. Ist das korrekt?

Zbigniew Brzezinski - Oui. Selon la version officielle de l’histoire, l’aide de la CIA aux moudjahidine a débuté courant 1980, c’est-à-dire après que l’armée soviétique eut envahi l’afghanistan, le 24 décembre 1979. Mais la réalité, gardée secrète jusqu’à présent, est tout autre : c’est en effet le 3 juillet 1979 que le président Carter a signé la première directive sur l’assistance clandestine aux opposants du régime prosoviétique de Kaboul. Et ce jour-là, j’ai écrit une note au président dans laquelle je lui expliquais qu’à mon avis cette aide allait entraîner une intervention militaire des Soviétiques.
Ja. Nach der offiziellen Geschichtsschreibung setzte die Hilfe der CIA für die Mudjahedin im Laufe des Jahres 1980 ein, sozusagen nachdem die Sowjetarmee in Afghanistan eingefallen war, am 24. Dezember 1979. Aber die Realität, die bis in die heutigen Tage geheim gehalten worden war, ist ein völlig andere. Tatsächlich war es der 3. Juli 1979, an dem Präsident Carter die erste Direktive für eine geheime Unterstützung für die Gegner des pro-sowjetischen Regimes in Kabul unterzeichnete. Und an genau diesem Tag schrieb ich in einem Memo an den Präsidenten, dass diese Hilfe nach meiner Einschätzung eine sowjetische Militärintervention herbeiführen würde.

N. O. - Malgré ce risque, vous étiez partisan de cette  covert action  [opération clandestine]. Mais peut-être même souhaitiez-vous cette entrée en guerre des Soviétiques et cherchiez-vous à la provoquer?
Trotz dieses Risikos haben Sie diese Geheimaktion befürwortet. Haben Sie vielleicht den sowjetischen Kriegseintritt herbeigesehnt und haben versucht, ihn zu provozieren?

Z. Brzezinski - Ce n’est pas tout à fait cela. Nous n’avons pas poussé les Russes à intervenir, mais nous avons sciemment augmenté la probabilité qu’ils le fassent.
Ganz so ist es nicht. Wir haben die Russen nicht zu einer Intervention verleitet, aber wir haben ganz bewusst die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie intervenieren würden.

N. O. - Lorsque les Soviétiques ont justifié leur intervention en affirmant qu’ils entendaient lutter contre une ingérence secrète des Etats-Unis en afghanistan, personne ne les a crus. Pourtant, il y avait un fond de vérité... Vous ne regrettez rien aujourd’hui?
Als die Sowjets ihre Intervention damit rechtfertigten, dass sie ein geheimes Engagement der Vereinigten Staaten in Afghanistan bekämpfen wollten, hat ihnen keiner geglaubt. Aber das war ja im Grunde wahr. Sie bedauern heute nichts?

Z. Brzezinski - Regretter quoi? Cette opération secrète était une excellente idée. Elle a eu pour effet d’attirer les Russes dans le piège afghan et vous voulez que je le regrette? Le jour où les Soviétiques ont officiellement franchi la frontière, j’ai écrit au président Carter, en substance: Nous avons maintenant l’occasion de donner à l’URSS sa guerre du Vietnam. De fait, Moscou a dû mener pendant presque dix ans une guerre insupportable pour le régime, un conflit qui a entraîné la démoralisation et finalement l’éclatement de l’empire soviétique.
Was denn bedauern? Diese geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Sie hatte zur Folge, dass die Russen in die Afghanische Falle gezerrt wurden und Sie woollen, dass ich das bedauere? Am Tag, als die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter, nun hätten wir die Gelegenheit, den Sowjets ihren eigenen Vietnamkrieg zu verschaffen. Tatsächlich musste Moskau für die folgenden 10 Jahre einen für die Regierung nicht durchzuhaltenden Krieg führen, einen Konflikt, der die Demoralisation und am Ende das Auseinanderbrechen des sowjetischen Weltreichs herbeigebracht hat.

N. O. - Vous ne regrettez pas non plus d’avoir favorisé l’intégrisme islamiste, d’avoir donné des armes, des conseils à de futurs terroristes?
Sie bedauern auch nicht, den islamischen Fundamentalismus gefördert zu haben, künftigen Terroristen Waffen und strategische Information gegeben zu haben?

Z. Brzezinski - Qu’est-ce qui est le plus important au regard de l’histoire du monde? Les talibans ou la chute de l’empire soviétique ? Quelques excités islamistes ou la libération de l’Europe centrale et la fin de la guerre froide?
Was ist in der Weltgeschichte am wichtigsten? Die Taliban oder der Zusammenbruch des sowjetischen Weltreichs? Ein paar erregte Islamisten oder die Befreiung von Mitteleuropa und das Ende des Kalten Krieges?

N. O. - Quelques excités? Mais on le dit et on le répète: le fondamentalisme islamique représente aujourd’hui une menace mondiale...
Ein paar erregte Islamisten? Man sagt es doch immer wieder: der islamische Fundamentalismus ist heute eine weltweite Heimsuchung…

Z. Brzezinski - Sottises! Il faudrait, dit-on, que l’Occident ait une politique globale à l’égard de l’islamisme. C’est stupide: il n’y a pas d’islamisme global. Regardons l’islam de manière rationnelle et non démagogique ou émotionnelle. C’est la première religion du monde avec 1,5 milliard de fidèles. Mais qu’y a-t-il de commun entre l’Arabie Saoudite fondamentaliste, le Maroc modéré, le Pakistan militariste, l’Egypte pro-occidentale ou l’Asie centrale sécularisée? Rien de plus que ce qui unit les pays de la chrétienté...
Unsinn! Man sagt, der Westen brauche eine globale Politik gegenüber dem Islam. Das ist dummes Geschwätz. Es gibt keinen globalen Islam. Blicken wir auf den Islam in einem rationalen Ansatz und nicht demagogisch oder emotional. Der Islam ist die mit 1,5 Millionen Gläubigen führende Religion der Welt. Aber was sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem saudi-arabischen Fundamentalisten, dem gemäßigten Marokkaner, dem pakistanischen Militaristen, dem pro-westlichen Ägypter oder dem Säkularen aus Zentral-Asien? Da gibt es nicht mehr als das, was die christlichen Länder eint.


Führt man sich die nachhaltige Selbstgewissheit und Selbstzufriedenheit einflussreicher Politiker wie Zbigniew Brzezinski vor Augen, kommt man nicht umhin, an das Gedicht vom Zauberlehrling zu denken. Natürlich war das Interview 1998, also vor nine-eleven gegeben; danach wäre der Duktus sicher ein anderer gewesen, eher im Sinne von Tarnen, Täuschen und...

Leider kann man ein erschreckendes Muster erkennen: Anfängliche Verbündete, die man unversehens zu Monstern aufrüstet, und die dann nur mit noch viel größeren Anstrengungen - und dabei neu herangezüchteten Monstern - bekämpfen muss. Gehen wir mal in der Geschichte ein paar Schritte rückwärts in eine Menagerie des Schreckens. Wie gesagt, die Taliban waren mal gute Kumpel, etwas schräg vielleicht, aber hilfreich beim Kampf gegen den epochalen Gegner Sowjetunion. Die Sowjetunion - und speziell Stalin - wurde bekanntlich gegen den aggressiven Nationalsozialismus & Faschismus - personifiziert: gegen Hitler - in Stellung gebracht und stiegen danach zum Endgegner auf. Dem Gesetz der Serie folgend, müsste dann irgendwann auch Hitler gefördert worden sein, nicht nur national, das ist heute ja recht gut ausgeleuchtet, sondern auch international. Und siehe da - auch das war einmal der Fall, sogar in einer wichtigen Phase. Wenn Sie mehr wissen wollen, gehen Sie der Geschichte von Ernst Franz Sedgwick Hanfstaengl nach und seiner Verbindung zu dem amerikanischen Militärattaché Captain Truman Smith. Tatsächlich waren Hitler und seine noch in den "Kinderschuhen" steckende Partei in den Zwanziger Jahren in der Perspektive amerikanischer (übrigens auch britischer) Geopolitik nicht unattraktiv, da sie sich lautstark als "Bollwerk gegen den Bolschewismus" empfahlen. Und man hat damals das geleistet, was man heute unter "Anschubhilfe" verbuchen würde, siehe näher den oben verlinkten Wikipedia-Artikel. Wer das Netz prominenter amerikanischer Unterstützer und Stichwortgeber weiter verfolgen möchte, sollte sich für Henry Ford interessieren, Herausgeber antisemitischer Hetzschriften ("The International Jew") und Verfasser des Vorworts zur amerikanischen Ausgabe von "Mein Kampf", für Charles Lindbergh, der noch 1938 ebenso wie Ford den höchsten deutschen Auslandsorden entgegennahm, auch für den nicht eben zart besaiteten Joseph Kennedy, der in Robert Harris bitterer Satire "Fatherland" zu späten und fiktiven Präsidenten-Ehren kam.

Wer das - auch die Wiedergabe des Interviews oben - als anti-atlantisch versteht, der versteht mich gründlich falsch. Ich mag Amerika und kenne keine hilfsbereiteren Menschen als eben Amerikaner (amerikanische Politiker vielleicht ausgenommen - oder diese sind auf falsche Weise hilfsbereit). Ich will nur vor den mörderischen Tücken eines unreflektierten Freund-Feind-Denkens warnen. Und ab und zu sollte nach gehöriger Prüfung der Historie auffallen: Nicht der ist naiv, der vor einer robusten militärischen Lösung warnt. Naiv ist häufig eine ambitionierte Außenpolitik, die als primären Wert den Frieden und die Anpassung im jeweiligen Bündnis sieht.

Nachtrag 18.8.2013
Das oben beschriebene Muster - der abrupte Wechsel in der Freund-Feind-Kennung nach Art Dr. Jekyll -> Mr. Hyde - lässt sich an mehreren Ketten von Krisen und Konflikten nachvollziehen, die bis heute das Gesicht des Nahen und Mittleren Ostens prägen und die seit den Fünfziger Jahren zivile Opfer in der Größenordnung von Millionen (!) gekostet haben. Das in meiner Jugend noch geflügelte Wort "ex oriente lux" oder "aus dem Osten kommt das Licht" könnte aus der Perspektive vieler Bewohner dieses Raumes einem neuen Wort weichen: "ex occidente nox" oder "aus dem Westen kommt die Nacht", auch wenn es der natürlichen Drehbewegung der Erde etwas widerspricht.

Das neueste Beispiel ist der durch Waffenflüsse aus dem Maghreb angefachte Konflikt in Mali - Waffen, die entweder aus den aufgelösten Arsenalen des gestürzten Machthabers Ghadafi stammen, aus frei herabregnenden Waffenlieferungen des Westens für den seinerzeitigen Aufstand des libyschen Ostens - oder aus der Unterstützung konservativer arabischer Staaten. 

Ein besonders prägnantes Beispiel für das beschriebene Muster ist die Kette Saddam Hussein / Khomeini / Reza Pahlewi / Mossadegh / Stalin / Hitler


  • Saddam wurde im zweiten Golf-Krieg niedergekämpft, war vorher ein umworbener Bundesgenosse des Westens gegen einen wieder erstandenen und nun als aggressiv verstandenen Islam im Iran. Der zweite Golfkrieg war mit dem Ende der Blockkonfrontation zusammengefallen, der Kuwait befreien und Saddam in seine Schranken weisen sollte. Schon die Tage unmittelbar vor der Invasion Saddams in Kuwait verliefen äußerst obskur, und dabei spielte das Verhalten der damaligen US-amerikanischen Botschafterin April Glaspie eine folgenreiche Rolle. TIME titelte später „Who lost Kuweit?“, Newsweek fragte „Who didn’t?“.  
  • Noch im irakisch-iranischen Krieg, dem so genannten ersten Golfkrieg, der für beide Seiten sehr verlustreich verlief und nach überwiegender historischer Deutung auf die Aggression des Irak zurückzuführen ist, war Saddam massiv vom Westen gegen den Iran Khomeinis unterstützt worden, und zwar auch bei der chemischen und biologischen Kriegführung. Selbst nach dem Einsatz von Giftgas gegen die irakisch-kurdische Bevölkerung gab es - jedenfalls von offizieller westlicher Seite - keine Proteste (!!!). In dem oben genannten Newsweek-Artikel wird ein Offizieller mit der bezeichnenden Kurz-Charakterisierung zitiert: "Saddam may have been a monster. But he was our monster."
     
  • Die islamische Renaissance des Iran unter Khomeini wiederum ist nicht zu verstehen ohne das diktatorische Wirken Reza Pahlewis. Der Schah war im August 1953 im Rahmen eines Staatstreichs mit nicht verhüllter Unterstützung britischer und US-amerikanischer Dienste - der "Operation Ajax" -  gegen den gewählten iranischen Präsidenten Mossadegh an die Macht gebracht worden. Er hatte sich zuvor als Freund des Westens und speziell der Interessen der Anglo Iranian Oil Company / AIOC (heute BP), als entschlossener Modernisierer mit extravaganter Gattin und als Puffer gegen den Einfluss der Sowjetunion Stalins empfohlen. 
    Randnotiz der Geschichte: Es war eine Demonstration gegen den Schah und seinen berüchtigten Geheimdienst SAVAK gewesen, auf der der Student Benno Ohnesorg am 2.6.1967 in Berlin erschossen worden war - was sodann zur Radikalisierung der deutschen Studentenbewegung maßgeblich beigetragen hatte.
     
  • Stalin wiederum war während des 2. Weltkriegs gegen Hitler aufgerüstet worden - und selbst Hitler hatte in den Zwanziger Jahren in der fördernden Gunst rechts-konservativer Teile der amerikanischen Elite gestanden, siehe oben in diesem Blogpost.

Meine Hoffnung ist, dass wir diesem wenig intelligent erscheinenden Muster nicht rettungslos ausgeliefert sind, dass wir nicht immer viel Geld und Waffen auf falsche Pferde setzen müssen. Dass wir vielmehr eine Evidenz-basierte Außenpolitik betreiben und aus der Historie ein wenig lernen können. Dann müssten wir allerdings auch, wie Eisenhower in seiner sehr luziden Abschiedsrede nach seiner Präsidenschaft, auch über die hoch wirksame Vernetzung zwischen Politik, Militär und Industrie nachdenken. Eisenhower - selbst ehemaliger hoher Militär - hatte dazu in seiner farewell address v. 17.1.1961 den Begriff des "military-industrial complex" geprägt und vor dem zerstörerischem Einfluss dieses Kraftzentrums auf demokratische Strukturen und Prozesse gewarnt.

Donnerstag, 15. August 2013

Ochlokratie und Ochlophobie

Den ersten Begriff - Ochlokratie - gibt's tatsächlich, und schon seit Tausenden von Jahren; er bedeutet so viel wie "Pöbelherrschaft". Den zweiten - Ochlophobie oder Pöbelfurcht - habe ich selbst gebastelt, um eine in der repräsentativen Demokratie unter den Repräsentanten weit verbreitete Weltsicht zu charakterisieren.

Der Argwohn gegenüber dem Volk ist in Deutschland fest und lang verwurzelt - die Angst vor einer Pöbelherrschaft wirkt als historische Klammer. Sie reicht herüber aus der Kaiserzeit in eine Demokratie-kritische Haltung der ersten Republik, die spätestens Ende der Zwanziger Jahre wieder stolz und offen getragen wurde. Man kann auch in das damalige europäische Umfeld blicken: Das demokratisch-parlamentarische Prinzip galt in den Dreissiger und Vierziger Jahren auf dem europäischen Kontinent - mit Ausnahme der Benelux-Staaten und Skandinaviens - als endgültig gescheitert.
Hans Mommsen, Alternative zu Hitler, München 2000, S. 8

Der Argwohn gegen die Bürgermenge setzte sich fort in einer elitär-autoritären Tendenz selbst des deutschen Widerstandes. Die weitverbreitete Skepsis gegenüber dem liberal-demokratischen System speiste sich bei den Vertretern des konservativen Flügels (des deutschen Widerstandes) auch aus der Überzeugung, dass Hitler ein Produkt der "Massendemokratie" sei, wobei man das politische Gewicht der nationalsozialistischen Massenmobilisierung bei weitem überschätzte.
Mommsen, aaO S. 165.

Die Vorstellung, Hitler habe den angeblich legalen Durchbruch zur Macht einer "Überdemokratisierung" der Weimarer Reichsverfassung verdankt, brachen noch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates durch.
Mommsen, aaO S. 165.

Die Angst vor der Volks-Gesetzgebung, vor Volksinitiative und Volksentscheid in der Hand von Deutschen rührte damit primär von deutschen Politikern und nährte sich aus intensiver Ochlophobie. Dafür kann ich wie im voran gegangenen Blogpost Heuss zitieren:
"Cave canem, ich warne davor, mit dieser Geschichte die künftige Demokratie zu belasten. (...) Das Volksbegehren, die Volksinitiative, in den übersehbaren Dingen mit einer staatsbürgerlichen Tradition wohltätig, ist in der Zeit der Vermassung und Entwurzelung, in der großräumigen Demokratie die Prämie jedes Demagogen."

Diese Einschätzung hat in der damaligen Situation und Gemütslage offensichtlich vorgeherrscht. Bei systematischer Prüfung stellt sich aber heraus: Die direkt-demokratischen Elemente der Weimarer Verfassung haben den Absturz in die Diktatur nicht ausgelöst, nicht einmal begünstigt.
Heußner/Jung [Hrsg.], Mehr Demokratie wagen, Olzog 1999, S. 41 - 57 mit ausführlichen Belegen

Wir dürfen die betont stabile, technokratische und bürgerferne Form des Grundgesetzes - unsere repräsentative Demokratie - getrost als Produkt eines andauernden Argwohns gegen die Bürger begreifen. Ein mutiger Neubeginn mit den Bürgern war es eindeutig nicht. Und dieses Ergebnis hat viel Zynismus. Die totalitäre deutsche Phase mit ihrer Verachtung aller bürgerlichen Rechte hat gerade die Bürger in dauerhaften politisch-moralischen Verruf gebracht - und ihnen die rote Karte bis auf weiteres eingetragen. Ein Gutteil der wirtschaftlichen, kulturellen und staatlichen Eliten dagegen wurde wieder gebraucht und wirkte weiter. Das gilt auch für den deutschen Ostteil. Das nationalsozialistische Kapitel hat damit die Kluft zwischen Bürgern und Staat mit Langzeitwirkung verfestigt.

Andere Länder dagegen haben sehr gute Erfahrungen mit unmittelbarer Einbindung der Bürger gemacht: Direkt-demokratische Strukturen sind auch in größeren Staaten ohne Zweifel erfolgreich und tragen merkbar zum Einklang zwischen Bürgern und Gemeinwesen bei.
vgl. Heußner/Jung, aaO S. 87 - 141, 159 - 236 zu den Erfahrungen in den USA, in der Schweiz und in Italien bzw. zur aktuellen Praxis in den deutschen Bundesländern

Das Misstrauen zwischen Politik und Volk war zweiseitig und damit besonders dauerhaft: Die Deutschen waren bis zum bitteren Ende des Krieges mehrheitlich auf eine politische Führungsschicht fixiert, die von dem meisten erst nach der Kapitulation als unmoralisch und verbrecherisch erkannt wurde (vorher hatte die Kriegführung der Alliierten, speziell das strategische Bombardement ziviler Ziele, eine selbstkritische Sicht zumindest erschwert). Nach dem Krieg und nach dem Öffnen der Konzentrationslager der massiven historischen Schuld Deutschlands konfrontiert wollten die allermeisten keine politische Verantwortung übernehmen, betrachteten Politik als ein "schmutziges Geschäft" und machten sich lieber an den physischen Wiederaufbau, einschließlich Fresswelle.

Ein repräsentatives Zeitzeugnis: Erinnerungen eines Schülers, der im Jahre 1951 Abitur gemacht hat:
"Politische Bildung erlebte ich nicht, wohl aber eine wertorientierte. Überhaupt fand eine Unterrichtung zur Demokratie nicht statt und war wohl auch nicht notwendig. Bis auf wenige Unbelehrbare waren vor allem junge Menschen angesichts des Desasters des verlorenen Krieges, des totalen Zusammenbruchs, der zu beklagenden Toten in fast jeder Familie und der Verwüstung unserer Städte über die heimtückische Verführung des Gröfaz (des größten Feldherrn aller Zeiten) und seiner Helfer derart enttäuscht, das sie nichts mehr davon hören mochten." (Zitat aus der Ausstellung Eine höhere Schulzeit in Opladen 1941 - 1951, Villa Römer, Leverkusen, Februar/März 2001)

Eine unpolitische Grundstimmung ist nicht untypisch im Gefolge von System- und Herrschaftswechseln - ein Pawlowscher Reflex, der nach der 1989er Wende im Osten auch die neuen Bundesbürger stark geprägt hat. Ein Ausschnitt, der aber genau unsere Zukunft betrifft: Die im März 2000 in Berlin vorgestellte 13. Shell Jugendstudie berichtete von "teils erdrutschartigen Vertrauensverlusten" der Politik bei der Jugend, und zwar verstärkt bei der Jugend im Osten:

"Das politische Interesse auf Seiten der Jugendlichen sinkt weiter. Das gilt für alle verschiedenen Untergruppen. Es hat zum einen damit zu tun, daß Jugendliche mit dem Begriff Politik die Landschaft von Parteien, Gremien, parlamentarischen Ritualen, politisch-administrativen Apparaten verbinden, der sie wenig Vertrauen entgegenbringen. Zum anderen empfinden Jugendliche die ritualisierte Betriebsamkeit der Politiker als wenig relevant und ohne Bezug zum wirklichen Leben. Zu erinnern ist: Unsere Daten wurden vor jener Kette von Ereignissen erhoben, die inzwischen "Parteispendenskandal" genannt wird. Im Vergleich zur vorhergehenden Studie ist das Vertrauen zu den Institutionen im staatlich-öffentlichen Bereich leicht angestiegen, zu jenen im Bereich der nichtstaatlichen Organisationen deutlich gesunken (Anm. des Verfassers zur Klarstellung: die politischen Parteien werden zum nichtstaatlichen Bereich gerechnet). Schlußlicht sind aber nach wie vor die politischen Parteien. Gerade bei den nichtstaatlichen Organisationen reißen große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland auf; in den neuen Bundesländern haben sie erdrutschartig an Vertrauen verloren. Die Jugendlichen lassen sie links liegen, weil sie meinen, sie hätten nichts mit ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Leben zu tun."

Soweit mir bekannt, hat sich die Grundeinstellung insbesondere der Jugend bis heute nicht grundsätzlich in dem Sinne verändert, dass politisches Engagement und Interesse gewachsen wären. Nicht nur die Kirchen haben Nachwuchssorgen, auch die traditionellen Parteien - und letztlich zeigt sich quer über alle politischen Gruppierungen eine massive "aging population"-Drift frei nach dem zynischem Spruch "Wer in der Jugend nicht links wählt, hat kein Herz - und wer im Alter nicht rechts wählt, der hat keinen Verstand." Die Parteimitglieder der Grünen gehören nächst denen der FDP zwischenzeitlich zu den am besten Verdienenden (siehe z.B. Parteien-Studie der Universität Gießen mit Stand Mitte 2011) und im Parlament kann ein verantwortlicher Grüner und früherer Friedensbewegter, dessen Koordinaten sich nun offenbar etwas verschoben haben, ohne Aufschrei seiner Wähler/innen staatsmännisch gewichtig über die neuen militärischen Herausforderungen raunen (!). Sicher, es gibt auch noch junge Aktive, aber häufig eben solche, die Politik nicht so sehr als res publica interessiert, sondern insbesondere als eigene Karriere-Chance, dann also eher als res privata - und nicht ganz selten entwickeln sich so sogar Dynastien von Politikern.

Ich werbe dafür, die überkommene Furcht vor dem Volk abzulegen und die Bürger/innen vielmehr als eine differenziert nutzbare Ressource für die Lösung kurz-, mittel- und langfristiger politischer Fragestellungen zu begreifen - und das auch im Wahlkampf

Nicht nur die Stimmbänder anstrengen, sondern auch das eigene Trommelfell nutzen ;-)


Nachtrag 18.8.2013 zum Begriff Ochlophobie:

Diese alten Griechen! Sie haben aber auch alles schon einmal gedacht - und wiki weiß es natürlich. Den Begriff "Ochlophobie" gibt es, wie auch den der Ochlokratie, schon seit Menschengedenken - wenn er auch bisher noch
 außerhalb des Staatsrechts im Gebrauch ist, nämlich als Krankheitsbild. Ich zitiere Wikipedia


"Bei der Ochlophobie – von griech.: ochlos („Menschenmenge“) und phobos („Furcht, Angst“) – bzw. Enochlophobie – griech. en-, („innerhalb“) – oder Demophobie – griech.: demos („Volk“) – handelt es sich um eine phobische Störung, die sich als irrational erlebte Angst vor Menschenmassen und überfüllten Plätzen äußert. Es ist genau genommen die Angst, eingequetscht oder zertrampelt zu werden."

Das war ein wenig auch während des Festakts "50 Jahre Deutscher Bundestag" am 7.9.1999 angeklungen (Scan des leider im Internetangebot des Bundestages nicht verfügbaren stenographischen Protokolls hier, Hervorhebungen von mir): 

Wolfgang Gerhardt hatte sehr daran gelegen, im Namen der FDP eindrücklich vor den "theoriesüchtigen Intellektuellen" zu warnen, deren "Heilsbotschaften (...) in der Geschichte niemals anders als in der Unterdrückung geendet haben." Will sagen: Keine Utopien mehr! Und Michael Glos hatte mit Klartext für die CSU sekundiert: "Das Parlament muss frei entscheiden können; es darf keine Pressionen der Straße geben!" Waren damit wir Bürger gemeint? Unter diesen dann wohl eher die Schlechter- als die Besserverdienenden. Die Pöbelfurcht regiert. 

Da möchte man doch eine Verhaltensweise empfehlen, die bei Ochlophobie zwar der orthodoxen Klassifizierung etwas widerspricht, aber aller Erfahrung nach doch hilft: Das repräsentative Selbstbild und die Pöbelfurcht überwinden und in die befreiende Öffentlichkeit hinaustreten! 

Ich zitiere nochmals Wikipedia:
"Obwohl diese Angststörung (gemeint: Ochlophobie) oft mit der Agoraphobie verwechselt wird, suchen Betroffene hier im Gegenteil möglichst weite Plätze auf, um diese Angst zu reduzieren. Im ICD-10 wird die Enochlophobie dennoch unter die Agoraphobie subsumiert:
Agoraphobie. Eine relativ gut definierte Gruppe von Phobien, mit Befürchtungen, das Haus zu verlassen, Geschäfte zu betreten, in Menschenmengen und auf öffentlichen Plätzen zu sein, alleine mit Bahn, Bus oder Flugzeug zu reisen. Eine Panikstörung kommt als häufiges Merkmal bei gegenwärtigen oder zurückliegenden Episoden vor. Depressive und zwanghafte Symptome sowie soziale Phobien sind als zusätzliche Merkmale gleichfalls häufig vorhanden. Die Vermeidung der phobischen Situation steht oft im Vordergrund, und einige Agoraphobiker erleben nur wenig Angst, da sie die phobischen Situationen meiden können."


Mittwoch, 14. August 2013

1949: Das Deutsche Volk gibt sich eine Verfassung

Mit Freude haben wir über den "real existierenden Sozialismus" gespottet. Aber Hand auf's Herz: Gibt es nicht auch eine "real existierende Demokratie"? Eine Demokratie, die mehr auf Form und Institution achtet als auf Kommunikation und Inhalt? Die ihre Bürger eher fernhält, als sie eng in den politischen Willensbildungsprozess einzubinden?

Geschichtlich bedingt ist unser Staat ausgeprägt "parlamentarisch repräsentativ" (vertretend) aufgebaut. Er kommt nüchtern betrachtet auch ohne tiefen Gedankenaustausch mit den normalen, den nicht parteigebundenen Bürgern gut voran. Und in den Parteien ist das Urteil über politische Kernthemen häufig kleinen Gruppen anvertraut. Dann entscheiden sehr wenige für sehr viele. Ich überspitze, um den Punkt klarzumachen: Deutschland ist eine absolute Republik, eine res publica civibus absoluta, eine von den Bürgern losgelöste Republik.

Nun, die historischen Bedingungen dieser Konstruktion - Angst vor in den Nachkriegsjahren weiterwirkenden totalitären und faschistischen Grundeinstellungen der Bürger - sind nun schon seit Jahrzehnten überwunden und die Bürger sind demokratisch volljährig geworden. Spätestens mit der Wiedervereinigung war auch eine Sollbruchstelle des Grundgesetzes erreicht, das nur ein Provisorium sein wollte, bis sich alle Deutschen eine erwachsene Verfassung geben konnten.

Wie lief die Entwicklung und wo stehen wir heute? War die Bürgerferne des Grundgesetzes eine Vorgabe der Alliierten?

Ein netter Erklärungsversuch, aber grundfalsch. Tatsächlich ist die Distanz schlicht hausgemacht. Die Alliierten hatten im sog. "Frankfurter Dokument I" v. 1.7.1948 ausdrücklich ein Referendum zur Annahme des Grundgesetzes durch die deutsche Bevölkerung gefordert:
(...) Wenn die Verfassung in der von der Verfassunggebenden Versammlung ausgearbeiteten Form mit diesen allgemeinen Grundsätzen nicht im Widerspruch steht (Bezug: föderale Struktur mit Sicherung der Rechte der beteiligten Länder, angemessene Zentralinstanz, Garantie der individuelle Rechte und Freiheiten), werden die Militärgouverneure Ihre Vorlage zur Ratifizierung genehmigen. Die Verfassunggebende Versammlung wird daraufhin aufgelöst. Die Ratifizierung in jedem beteiligten Land erfolgt durch ein Referendum, das eine einfache Mehrheit der Abstimmenden in jedem Land erfordert, nach von jedem Land jeweils anzunehmenden Regeln und Verfahren. Sobald die Verfassung von zwei Dritteln der Länder ratifiziert ist, tritt sie in Kraft und ist für alle Länder bindend. (...)

Dies entspricht bestem amerikanischem Verfassungsverständnis und sollte die Identifikation der Bürger mit der neuen Ordnung festigen. Das amerikanische Verfassungsrecht kennt übrigens neben dem Grundsatz der Volks-Verfassung traditionell und weitverbreitet auch die Volks-Gesetzgebung und die Amerikaner haben nach dem Vorbild vieler amerikanischer Teilstaaten direkt-demokratische Regelungen in verschiedenen deutschen Landesverfassungen unterstützt. Gegen die Volksabstimmung über die Verfassung haben sich dann westdeutsche Politiker gewandt. Sie befürchteten, eine "vollgültige" Verfassung könnte ein Hindernis späterer Wiedervereinigung sein und eine Mehrheit der Deutschen könnte das Grundgesetz als Zementierung der deutschen Teilung ablehnen. Und so heißt es in dem deutsch-alliierten Schlusskommuniqué auf der Grundlage der Schlusskonferenz der Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten am 26.7.1948:
1. Der Parlamentarische Rat tritt gemäß Dokument I am 1.9.1948 zusammen und führt die Beratungen über die vorläufige Verfassung der Vereinigten Westzonen durch. Das Ergebnis seiner Beratungen wird den Namen "Grundgesetz - Vorläufige Verfassung" (basic constitutional law) tragen. Die Ministerpräsidenten schlagen die Ratifizierung des "Grundgesetzes - Vorläufige Verfassung" durch die Länderparlamente vor. Sofern die alliierten Regierungen auf die Abhaltung einer Volksabstimmung bestehen, erklären sich die Ministerpräsidenten auch mit dieser Lösung einverstanden.
2. (...)

Die Alliierten haben nicht weiter auf das Referendum bestanden und unmittelbar nach der Konferenz wurde eine Vereinbarung der Ministerpräsidenten über den Parlamentarischen Rat und das "Modell eines Gesetzes über die Errichtung des Parlamentarischen Rates" veröffentlicht. Das Grundgesetz wurde 1949 entsprechend dem Votum der Ministerpräsidenten durch die Landesparlamente (bis auf Bayern) und eben nicht durch die Bürger angenommen. Die damalige Präambel ist in der Interpretation des kleinen Schönheitsfehlers etwas ungenau und recht großzügig; sie zeigt immerhin den richtigen Weg (Hervorhebungen von mir):
Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (...) hat das Deutsche Volk in den Ländern (...), um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beschlossen. (...)

Es war ein seltsamer Schwebezustand der noch nicht ganz vollendeten Demokratie- Westdeutschland schon als Bollwerk fest und die Bürger mit dem Versprechen des Provisoriums auf später vertröstet. Da fiel es selbst den Vätern des Grundgesetzes schwer, mit einfachen Worten Verfassungspatriotismus herüber zu bringen:
"Wir begreifen das Wort - provisorisch - natürlich vor allem im geographischen Sinn, da wir uns unserer Teilsituation völlig bewusst sind, geographisch und volkspolitisch. Aber strukturell wollen wir etwas machen, was nicht provisorisch ist und gleich wieder in die Situation gerät: heute machen wir etwas und morgen kann man es wieder ändern, und übermorgen wird eine neue Auseinandersetzung kommen. Wir müssen strukturell vielmehr etwas Stabileres hier fertigzubringen versuchen, auch etwas, das eine gewisse Symbolwirkung hat, sodass wir den Besatzungsmächten, dass wir auch den Leuten im Osten sagen: wir sind nun eben auf einem Weg begriffen, dessen Ende noch nicht erreicht ist."

Diese pragmatische Quadratur des demokratischen Kreises hat Theodor Heuss formuliert, Mitglied des Parlamentarischen Rates und späterer erster Bundespräsident.


Soweit zur Abstimmung der Deutschen über die Verfassung selbst, eine Abstimmung, die nach 50 Jahren noch immer aussteht. Ich kann das auch sehr positiv fassen: als bisher aufgesparte Chance, Legitimation zu schaffen und unseren Staat jetzt in uns Bürgern anzusiedeln. Wie wär's?