Dienstag, 18. August 2009

Schreck am Morgen. Und zweimal Schönheit zum Lernen.

Montags fahre ich immer sehr früh nach Bonn (6:12 h ab Opladen). Sonst würde ich mir im dann überfüllten Zug mindestens bis Deutz die Beine in den Bauch stehen.

Drum stieg ich gestern in Bonn, Max-Löbner-Straße leicht schlafwandelnd aus der Straßenbahn. 30 Sekunden später fehlt mir meine Notebook-Tasche.

Oder: dann fällt sie mir wieder ein. Okay - in der Ruhe liegt die Kraft. Habe im Internet schnell die Service-Seite meines Verkehrsverbundes Rhein-Sieg gefunden. Es war zwar noch keiner im Laden, aber man konnte sein Problem unmittelbar eingeben und abschicken. Der Kunde dankt für so viel Mitdenken! Das eigentliche Problem begegnet Ihnen, wenn Sie nicht ausschließen können, ihr Hab und Gut vielleicht auch in der Obhut der Deutschen Bahn gelassen zu haben. Wahnsinn: Mehrere Versuche, ein passendes Fundbüro per Internet zu finden, ohne irgendein greifbares Ergebnis. Nun habe ich zu Weinnachten das besondere Fan-Buch “Senk ju vor träwelling. Wie Sie mit der Bahn fahren und trotzdem ankommen” gelesen. Spätestens seitdem achte ich immer peinlichst auf einen Sicherheitsabstand von Minimum 100 m zum nächsten Reisecenter der Deutschen Bahn.

Einschub: Die Distanz zum Reisecenter galt bis auf einen besonders senkens-werten Montag, an dem ich mein Jobticket zu Hause gelassen hatte. Um 6:30 h hat mich dann ein besonders barscher Kontrolleur gestellt und geweckt [nach 7:30h trauen sie sich nicht mehr heraus, kämen aber auch gar nicht durch die hochverdichteten Kunden]. In der Folge durfte ich zur Vermeidung eines erhöhten Beförderungsentgeltes v. 40€ demütigst im Reisecenter meine langjährige Kundeneigenschaft nachweisen und dafür - müsste alles eigentlich datentechnisch bekannt gewesen sein - dann noch 7€ ergänzende Gebühr oder "leicht erhöhtes Fahrtentgelt" zahlen.
[Hochaktueller Nachtrag und Warnung: Vor wenigen Tagen bekam ich von einem Inkasso-Büro im Auftrag der Bahn eine Mahnung mit nunmehriger Gesamtforderung i.H.v. 92,11€. Ich habe am folgenden Morgen ergebnislos in dem Reisecenter, das meine 7€ entgegen genommen hatte, vorgesprochen. Dort allerdings hatte ich noch nicht den - glücklicherweise im Büro sicher abgelegten - Einzahlungsschein bei mir. Ich wusste auch nicht zu 100%, ob ich ihn denn ordentlich veraktet hatte. Das sehr mürrische Reisecenter beschied mich, dass man allein mit meinem Jobticket den Zahlungs-Vorgang in den IT-Systemen der Bahn nicht nachverfolgen könnte. "Das geht nur mit dem Zahlschein. Da steht aber doch ausdrücklich drauf, dass man ihn 6 Monate aufbewahren muss!" Zum Glück, wie gesagt und das ist jedem dringendst anzuraten, habe ich die Quittung ja noch gefunden. Ich reagiere nun auf die recht einschüchternd formulierte Mahnung ("... erhalten Sie eine Forderungsauflistung, da uns Ihre Gläubigerin mit dem Einzug ihrer überfälligen Forderung beauftragt hat. ... Ihnen entstehen keine weiteren Kosten, wenn der obige Gesamtbetrag bis zum 27.8.2009 bei uns eingegangen ist.") nicht, mit Bedacht nicht. Nein, ich werde meine Quittung erst bei Eingang eines Mahnbescheides präsentieren, mit sicher noch vielen attraktiven Eskalationsschritten dazwischen. Mein Sohn ist neulich über drei Monate gemahnt worden, bis die Bahn einsehen musste, dass er alles völlig richtig gemacht hatte. Ich freu' mich schon. Vielleicht organisiert sich die Bahn dann irgenwann mal kundenfreundlich. Verdient hätten wir das! ]

Zurück zur verlorenen Notebooktasche!
Ich fürchte schon gerade: Nach 15 Jahren muss ich wieder meine Zeltausrüstung vom Speicher hole und beim Discounter haltbare Lebensmittel für drei Tage bunkern. Für die Zeit vor und im DB-Reisecenter. Da aber klingelt das Telefon und eine freundliche Seele teilt mit, sie hätte meinen kostbaren Büggel in der Straßenbahn gefunden und gleich sichergestellt, in Tannenbusch. Da bin ich sofort hin und habe nun alles wohlbehalten zurück. Finderlohn will sie keinen, ich habe ihn ihr aber schließlich (“für die Kaffeekasse”) aufnötigen können. So viel Schönheit!

Und ein Gefühl wie nach Champagner: Sie haben zwar nüchtern betrachtet (nur) den Zustand wie vor dem Verlust wieder hergestellt; aber die Erleichterung trägt Sie noch positiv über den ganzen Tag. Irgendwie müsste man das systematisch ausbauen können. Erinnert mich auch an ein Zigaretten-Plakat, das ich vor vielen Jahren allerdings ziemlich bescheuert fand: "No risk, no fun!" Steckt aber wirklich ein wenig im Menschen - merkt man auch bei der Bürgermeisterwahl. Der Zigaretten-Hersteller hatte es nur schandhaft ausgenutzt.

Die zweite Schönheit liegt auf dem Weg dazwischen. Von der Haltestelle Tannenbusch-Mitte war es nicht ganz einfach, zu der Finderin zu finden; meine Wegskizze war auch in der Eile etwas konfus geraten. Es hilft mir eine eher unscheinbare Frau mittleren Alters mit Kopftuch und einem etwas missgestimmt dreinschauenden, dunkeläugigen Kind an der Hand. Auf meine Frage antwortet sie in einem so wunderbar modulierten Deutsch, wie man es sich bei Nachrichtensprechern oder Schauspielern nicht schöner vorstellen kann. Ihre Information ist auch präzise und hilfreich. Meinen Dank und die Bemerkung, sie spreche besser Deutsch als die meisten Deutschen, quittiert sie mit einem Lächeln und dankt zurück. Die faszinierende Sprecherin mit Kopftuch erinnert mich wieder an einen sehr lesenswerten wissenschaftlichen Artikel aus der APuZ, der Beilage “Aus Politik und Zeitgeschichte” zum offiziellen Organ des Bundestags, dem “Parlament” (Birgit Rommelspacher “Zur Emanzipation ‘der’ muslimischen Frau, ApuZ 2009, Nr. 5 http://www.bpb.de/publikationen/DP9013.html). Eine Kernaussage dort ist: “Tatsächlich sind Muslima in Deutschland, die sich für ein Kopftuch entscheiden, in der Mehrzahl junge selbstbewusste Frauen”, unter Bezug übrigens auf eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Es ist gerade die verschleierte bzw. Kopftuch tragende Gruppe der muslimischen Frauen in Deutschland, die überdurchschnittlich lern- und aufstiegsorientiert ist und die es manchmal nur zu genau dieser Kondition sein kann. Oder: unser Versuch, den muslimischen Frauen mit unseren Kleidungsvorschriften zu helfen, kann ungewollt und missverstehend ins Leere gehen. Wer hätte das gedacht?

Zu den selbstbewussten jungen Frauen gehört übrigens auch Fereshta Ludin. Sie wurde 1972 in Afghanistan (!) geboren und1995 in Deutschland eingebürgert. Fereshta Ludin hat vor dem Bundesverfassungsgericht i.J. 2003 das Urteil erstritten, dass es für jedes Kopftuch-Verbot eine gesetzliche Grundlage braucht (www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20030924_2bvr143602.htm). Die entschlossene Frau Ludin zähle ich zu den großen Bürgerrechtlerinnen. Nur: Es half ihr am Ende nicht viel. Baden-Württemberg erließ ein solches Gesetz und Frau Ludin musste auf eine private Schule ausweichen. Anm.: Die Geschichte von Frau Ludin lässt einen auch etwas besser verstehen, warum die gut gemeinten Kriegsziele in Afghanistan so schlecht zu erreichen sind: Vermutlich haben wir nicht das rechte Verständnis und zu wenig Toleranz für die historisch gewachsenen Inhalte und für die “Beratungsresistenz” anderer zeitgenössischer Kulturen.

Die Frau, die mir geholfen hat, könnte mit Sicherheit viele Schüler/innen voranbringen, deutsche wie nichtdeutsche. Aber um staatliche Lehrerin zu sein, müsste sie zuerst einmal ihr Kopftuch abgeben, in NRW seit Mitte 2007.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen